Erinnerungen von Lilo Bhatia

Weihnachtsgeschäft - Der Charme des Irrsinns 2

11. September 2017
Redaktion Börsenblatt
Die Buchhändlerin Malu Schrader hat in der vergangenen Woche über den "Charme des Irrsinns" im Weihnachtsgeschäft geschrieben. Ihr antwortet eine Kollegin, bei der "das mit dem Irrsinn" vor 50 Jahren in einer Christlichen Buchhandlung in Nordrhein-Westfalen begann. 

Vor 50 Jahren fing das bei mir an, das mit dem Irrsinn. Es war meine Lehrzeit in einer Christlichen Buchhandlung in einer mittleren Stadt in NRW. Der November und Dezember waren die verkaufsstarken Monate. Zunächst hieß es kiloweise christliche Abreißkalender an die Kirchengemeinden und an die anderen (freien) Gemeinden zu liefern. Dazu kamen einzelne Kunden, die diese Kalender an ihre Lieben verschickten, an Missionsstationen in fremden Kontinenten, an ihre Verwandten in den Ostblockstaaten, oder an ausgewanderte Mitglieder. Das Verpacken in die Ostblockstaaten war eine Wissenschaft für sich, keine Hinweise auf Firmen, öffentliche Institutionen, deshalb mussten die Kalender in neues Packpapier (keine alten Zeitungen) eingepackt werden, ohne Begleittexte, Weihnachtspapier ohne Krippen- oder Engeldarstellungen. Auch nicht auf den Kalendern selber.

Dann kamen die Herren Pastores,  oder vielmehr die angetrauten Frauen und die Gemeindeschwestern und machten Großeinkäufe für die Adventsfeiern der Alten, der Mütter, der Jugendlichen, der Kinder usw. Es gab viele zu beschenken, aber das Geld war knapp, also waren die Hits kleine Heftchen mit erbaulichem Inhalt, Karten zum Einrahmen mit christlichen Sinnsprüchen, umrahmt von mehr oder weniger künstlerischen Blümchen oder Symbolen. Vor allen Dingen durften das nicht die sein, die man in den Jahren vorher schon gekauft hatte, sie mussten nagelneu sein. Und dieser ganze Kleinkram kam von drei verschiedenen Verlagen, St. Johannis-Druckerei, Kiefel Verlag, Neukirchener Verlag. Alles musste ausgezeichnet (mit Preisen versehen) werden, vorsichtig mit feinen Bleistiften HB. Auspacken, auszeichnen, im Laden einräumen, das ging nur nach Feierabend. Da waren im Dezember die Nächte lang! Und hier kam dann auch das beste Ritual zum Tragen.


Klassik mit Eintopf

Wenn nach dem letzten Kunden abends die Ladentür abgeschlossen wurde, ging der Chef zum Schallplattenspieler, so ein Koffergerät vom Bertelsmann Lesering, und legte klassische Musik auf,  Mozart Flötenkonzert KV 313, oder Bach, Brandenburgisches Konzert No. 3, und Vivaldi. Dann kam die Frau des Chefs mit einem dampfenden Topf, begleitet von köstlichem Duft nach Gemüseeintopf, Nudelsuppe, Erbsen-, Linsen-, Bohnensuppe, selbst gekocht und wirklich lecker. Doch  der Freitagabend verlief anders: der Laden wurde zugemacht und wir gingen gemeinsam in den „Wienerwald“ in der Nachbarschaft und der Chef spendierte, was wir uns wünschten. Nach diesen Mahlzeiten ging’s dann weiter mit Fleißkärtchen und Kalenderchen im Miniformat - auspacken, auszeichnen ect.p.p. 


Eine unserer besten Kundinnen, die Ehefrau des örtlichen Baulöwen und Gemeindepredigers bei den Baptisten, war eine äußerlich und auch innerlich beachtliche Person. Von großer und beleibter Figur und einer coloraturreichen Stimme rauschte sie in den Laden und wurde sogleich in die, nur besten Kunden, Freunden und Verlagsvertretern vorbehaltene Sitzecke mit Nierentischchen und niedlichen gelb-braun gemusterten Sesselchen platziert. Und dann suchte sie gewaltige Mengen dieser kleinen christlichen Kärtchen, Kalenderchen, Geschenkanhängerchen aus, aber bitte immer mit einem Bibelspruch versehen. Und all diese bunten Druckerzeugnisse kommentierte sie mit „ach, wie wonnig!“ oder „nein, wie entzückend!“, aber meistens doch mit „ach wie wonnig“. Da sie die Gattin des Cousins unserer Chefin war, wurde sie fast zur Familie gezählt, also Elsie hatte dementsprechend ihren Auftritt in der Buchhandlung und berichtete dann voller Stolz von ihrer Tochter, die gerade ihr Abitur vorbereitete und anschließend Theologie (wie außergewöhnlich!) studieren wollte, und von ihrem Sohn, der Querflöte spielte und obwohl erst 16 Jahre alt, schon bei Kirchenkonzerten auftrat. „Ach, wisst Ihr, es ist dann so berührend, wenn er bei unseren Hausmusikabenden so innig spielt.“

Elsie wurde immer von ihrem Mann mit dem Auto zu uns gebracht und wieder abgeholt, wobei er selbst nur kurz seine Cousine und den dazugehörigen Chef begrüßte. Soweit zu Elsie. Wenn wir also abends mal wieder diesen christlichen Kleinkram auspackten, riefen wir abwechselnd „ach, ist das nicht wonnig“ oder „wie berührend, diese Blümchen!“. Ich habe nie wieder Kleider, Blusen oder Tücher mit Blümchenmustern tragen können – bis heute nicht – ich hätte dann vor dem Spiegel gestanden und Elsies „ach, wie wonnig“ im Ohr gehabt.


Florentiner vom Vertreter

Mein Lieblingsritual fiel in die sogenannte Sauregurkenzeit, dann wenn sich die Verlagsvertreter die Klinke in die Hand gaben. Herr von dem Knesebeck von Droemer-Knaur, Herr Fritsche von Kosmos (er legte Wert darauf, dass man bemerkte, dass er Linkshänder war) Herr May vom S. Fischer Verlag (von ihm konnte ich meistens ein tolles Leseexemplar abstauben). Und bei diesen Besuchen gab es vom Café nebenan für jeden ein Kännchen Kaffee und einen Florentiner, Spezialität des Hauses - und manchmal bezahlte das mein Chef, meistens aber der Vertreter; ja, so war das damals noch!

Das beste Ritual aber fand am Heiligabend (sofern dieser auf einen Werktag fiel) statt: Der Chef schloß die Ladentür ab, schritt zum Plattenspieler und es ertönte Händels großes "Halleluja", und wir alle, nein wir sangen nicht, wir grölten mit, dann holte seine Frau die Geschenke für uns aus ihren diversen Einkaufstaschen, der Chef überreichte uns den Briefumschlag mit der Weihnachtsgratifikation und meinte dann, „So, ich wünsche Euch ein erholsames Fest.“ Es wurde nicht mehr aufgeräumt, nicht einmal der Boden gekehrt, kein Papierkorb geleert, das alles war jetzt Nebensache und jeder eilte nach Hause und fiel total kaputt auf irgendein Sofa oder ins Bett. Das Feiern daheim fiel dann sehr gemäßigt aus, nur nicht beim Festmahl am 1. Weihnachtsfeiertag.

Ich habe noch in vielen Buchhandlungen und Verlagen gearbeitet, aber die Rituale waren oft sehr ähnlich, meistens "running gags", entstanden durch nicht alltägliches Auftreten von Kunden. Aber davon vielleicht ein andermal.

Hier geht es zum Beitrag von Malu Schrader!

Haben auch Sie Rituale im Weihnachtsgeschäft entwickelt? Erzählen Sie uns davon!