"Ohne Routine", sagt Helga Weyhe, "kann man nicht leben." Also steigt sie um kurz nach acht Uhr morgens die hölzernen Stufen von ihrer Wohnung hinab in den Laden, sperrt auf, packt die blaue KNV-Wanne aus, sortiert Bestellungen ins Regal. Und wartet, inzwischen ist es neun Uhr, aufs erste Signal der Ladenglocke. Mit ihren 95 Jahren ist Helga Weyhe die älteste aktive Buchhändlerin Deutschlands. Doch die Augen der resoluten grauhaarigen Dame, über deren Strickweste eine Lesebrille baumelt, blitzen ironisch wie die eines jungen Mädchens, als wir darüber sprechen, was sie da täglich ins Geschäft treibt: "'Ne missionarische Aufgabe mit Büchern? Bloß das nicht! Es macht einfach Spaß! Und ich bin gern mit Menschen zusammen."
Überraschung aus Berlin
Der einzige Luxus, den sich Helga Weyhe seit einer Reihe von Jahren gönnt, ist die ausgiebige Mittagsruhe von eins bis drei – da bleibt der Laden geschlossen. Im Rampenlicht steht die bescheidene Frau nur ungern. Ein eigener Wikipedia-Eintrag, die Ehrenbürgerschaft von Salzwedel zu ihrem 90sten? "Alles Alterserscheinungen", sagt sie, selbstironisch lachend. Doch als Jan Ole Püschel, Referent aus dem BKM, vor einigen Wochen in Weyhes Laden stand und der Chefin eröffnete, dass sie anlässlich der Vergabe des Deutschen Buchhandlungspreises den erstmals vergebenen Sonderpreis für langjährige und herausragende Verdienste um den deutschen Buchhandel erhalten soll, waren Freude und Rührung groß. Am 30. August fährt sie mit ihrer Nichte nach Hannover, erster Klasse. "Mit der zweiten wären wir ja auch ans Ziel gekommen", sagt sie. Typisch Weyhe.
Traum von Amerika
Die Fachwerkzeile in der Altperverstraße hat schon bessere Zeiten gesehen, an diesem Morgen wirkt sie wie ausgestorben. Als Helga Weyhe ein kleines Mädchen war, pulsierte hier das Leben. Kopfsteinpflaster, Herren mit Zigarre und Jungs in Matrosenuniformen. Die Buchhändlerin ist in dem Eckhaus Nummer 11 mit dem kleinen Lädchen geboren, wie schon ihr Vater. Großvater Heinrich hatte das Sortiment einem Herrn Schmidt abgekauft, als er 1871 aus dem Deutsch-Französischen Krieg heimkehrte. Und auch ihr Onkel wurde Buchhändler, auf der anderen Seite des großen Teichs: Mitte der 1920er Jahre wanderte Erhard Weyhe nach Amerika aus und eröffnete in New York, 794 Lexington Avenue, Weyhe Art Books. Eine noble Adresse. Bis 1938 besuchte er die Verwandten in Salzwedel regelmäßig. "Und dann sagte er immer: 'Wenn du groß bist, kommst du zu mir!'" Amerika, New York – das wurde der große Traum der Helga Weyhe. Dann kam der Krieg. Dann der kalte Krieg. Dann waren die Grenzen dicht. Doch das ahnte Weyhe nicht, als sie, nach ein paar Semestern Germanistik und Geschichte in Breslau, Königsberg und Wien, 1945 ins väterliche Geschäft einstieg.
"Wir bleiben hier!"
Nach Hamburg und Berlin fuhr sie damals "mit ein paar Speckseiten", um neue Bücher zu bekommen. "So wie mein Vater die braune Literatur nicht hatte, gab's bei uns die ganzen Jahre keine rote." Die Leute lasen wie die Süchtigen: Hermann Hesse, die Amerikaner in den ersten Rotationsromanen von Rowohlt im Zeitungsformat – mit der Währungsreform war damit Schluss. In den 50er Jahren der Exodus der Kundschaft über die grüne Grenze. "Wir bleiben hier", beharrten die Weyhes; auch dann noch, als private Buchhandlungen reihenweise geschlossen wurden und die Kripo ihnen Friedrich Meineckes "Die deutsche Katastrophe" aus dem Regal weg beschlagnahmte. "Wir haben uns so durchgemogelt." Seit den 70ern half der kleine Grenzverkehr; Westbesucher rissen Weyhe die günstigen Aufbau-Klassikerausgaben und Anatomie-Atlanten aus volkseigener Produktion nur so aus der Hand. "Der Knochenbau des Menschen", meint die Buchhändlerin lächelnd, "war in Ost und West gleich."
Ausbrüche aus der verordneten Enge
Wer sich bei Helga Weyhe nach dem Leben in der DDR erkundigt, wird ironisch gemustert. "Da müssen Sie eigentlich jemand anderes fragen", pflegt sie zu antworten. Weyhe litt unter den Reglementierungen, der verordneten Enge – aber sie fühlte sich nie gebunden. Bis zum Mauerbau ist sie viel und auf oft abenteuerlichen Wegen gereist; meist über Westberlin, von dort mit neuem Pass weiter, nach Paris oder Rom. Das ging 1952, die Sperrzone war gerade eingeführt worden, so: "Mit dem Zug nach Berlin, weiter mit dem Flugzeug nach Hannover. Per Anhalter bis München. Von dort mit dem Zug 20 Stunden nach Rom. Und dann mit dem Schiff von Neapel nach Capri. Ich hab’ nichts ausgelassen." Stets kam sie zurück: "Ich hatte ja meine Eltern hier." 1982, sie war nun 60, besuchte sie endlich die Tochter ihres Onkels in New York. "Vielleicht ist es gut, dass ich das erst im Alter kennengelernt habe."
Geschichts-Lektionen
Die Buchhändlerin fixiert einen Punkt auf der großen Schulwandkarte an der Stirnseite des Büros, Deutsche Geschichte 1476 – 1648. Ist sie jetzt wieder die junge Studentin in Wien? In diesem Hinterzimmer scheint seitdem nicht viel Zeit vergangen: sepiafarbene Familienfotos, antiquarische Bücher, ein Tresor. "Den hat mein Großvater 1880 zur Hochzeit bekommen. Oben geht er nicht mehr richtig zu." Die Ladenglocke schnarrt, ein grauhaariger Schopf schiebt sich zur Tür herein. Der Kunde, ein pensionierter Arzt, ist enttäuscht, dass der Schnack mit seiner Buchhändlerin heute ausfällt. Ein Band über die Mark Brandenburg? "Den haben Sie noch nicht?", spielt Weyhe die Vorwurfsvolle, "Das wird aber Zeit! Den nehmen wir aus dem Fenster."
Über den ihr verliehenen Sonderpreis des Deutschen Buchhandels freue ich mich sehr.
Gruß
PWS
Frau Weyhe ist kritisch und nicht bequem. Gelegentlich merkt man erst später, was Sie wohl mit ihrer Frage gemeint haben könnte. Wie z.B.: "Gibt es noch Bürger in Salzwedel?"
Wir sind sehr dankbar, Frau Weyhe in unserer Stadt zu haben. Sie ist ein sicherer Kompass für Dinge die gut oder eben unmöglich sind. Sie ist in Ihrem Lebenslauf nicht von der Geschichte verwöhnt, aber Sie hat einen Weg gefunden, damit zu leben.
Mit dem Preis hätte man keine bessere Wahl trefen können - schön zu sehen, dass man von Berlin auch in die ländliche Region schaut.
Dietrich v. Gruben, Salzwedel