67. Arbeitstagung der Herstellungsleiter: Interview mit Claudia Güner und Carsten Schwab

"Wir dürfen nicht langweilig werden!"

22. Mai 2017
Redaktion Börsenblatt
Sie ist ein ganz besonderes Branchennetzwerk: die Tagung der Herstellungsleiter, die noch bis Samstag in Kloster Irsee läuft. Claudia Güner und Carsten Schwab haben sie vier Jahre lang mitorganisiert. Zeit für eine Bilanz – und für ein paar Anmerkungen zum aktuellen Buzzword der Arbeitswelt: Industrie 4.0. 

In seiner Anfangszeit bei Rowohlt hörte Peter Kraus vom Cleff auf den Verlagsfluren häufig die raunenden Worte: "Das besprechen wir in Irsee." Ist die Herstellungsleitertagung, wie der Rowohlt-Mann mutmaßte, die "bestorganisierte Führungskräfte-Crew der Branche"? 

Claudia Güner: Wenn wir es herunterbrechen auf Produktion und Herstellung, dann gibt es wenig Vergleichbares. 

Carsten Schwab: Man darf nicht vergessen, dass es bereits die 67. Tagung ist. Und dass wir uns in den letzten Jahren noch mal professionalisiert haben. Wir verfügen über ein maßgeschneidertes Angebot, das die ganze Breite der Themen abdeckt, die Führungskräfte in Medienunternehmen heute umtreiben; auch die Vereinsstruktur, die wir uns gegeben haben, ist noch mal ein Quantensprung. In Gremium und Vorstand bringen wir einige der Management-Tools, die wir zur Tagung vorstellen, dann auch zur praktischen Anwendung (lacht).

Der Arbeitsalltag in den Herstellungsabteilungen wird immer komplexer; heute reden wir, um Ihren aktuellen Keynote-Speaker Markus Klose zu zitieren, über "Drohnen-Lieferungen" und farbig gestaltete Vorsätze. Wie geht das – vom großen Publikums- bis zum Fachverlag zusammen? 

Güner: Es ist ein Spagat, der einen nicht zerreißen darf, sondern den man stattdessen eher spielerisch bewältigen sollte. Auf der einen Seite haben wir es mit Schlagworten wie Industrie 4.0, Automatisierung, Standardisierung zu tun – auf der anderen Seite wollen und müssen wir gegenüber gesichtslosen Gratis-Angeboten bestehen, indem wir immer individueller, schöner, haptischer werden. Der intensive Austausch über diese komplexen Anforderungen macht das jährliche Treffen in Irsee so wertvoll! Wenn man sich mit Kollegen, egal, aus welcher Ecke der Branche, unterhält, dann nimmt man mit einer angemessenen Portion "Transferleistung" unglaublich viel aus jedem einzelnen Gespräch mit.

Also: Gelebtes Xing? Die Kaffeepausen und ein gemeinsames Klosterbräu sind fast so wichtig wie die Vorträge?

Schwab: Aus der Perspektive des "Belletristen" kann ich das nur unterstreichen: Für unsere Häuser ist es immer unheimlich lehrreich zu schauen, was bei den Fachverlagen passiert. In der Regel haben die mindestens fünf Jahre technischen Vorsprung; sie haben bereits Technologien eingeführt, die belletristischen Häusern zum Teil noch suspekt erscheinen. Das ist ein unglaublicher Ansporn: Einerseits von Kollegen aus anderen Sparten zu lernen, Best-practice-Erfahrungen zu übernehmen. Und dann natürlich, das Ganze umzuformen für die eigenen Bedürfnisse. Als Publikumsverlag sind wir einerseits ein Informationsanbieter und müssen uns als solcher in digitalen Zeiten mit Automatisierung und neuen Formen des Datenaustauschs beschäftigen…

Güner: Ich dachte, Ihr seid Story-Anbieter? 

Schwab: Wir erzählen Geschichten, klar. Aber wir müssen natürlich auf der Händlerseite auch Informationen, wie zum Beispiel Schlagworte, distribuieren. Wir müssen uns, was Informationsströme, Metadaten anlangt, auf den Stand des 21. Jahrhundert bringen. Trotz aller Digitalisierung sind wir stets ein Anbieter für eine sinnliche Welt: Unsere Kunden sind Menschen, die sinnliche Produkte anfassen und ins Regal stellen wollen.

Güner: Da kommen wir – Publikumsverlag und Fachinformation – uns langsam näher. Wir machen Produkte für Menschen, und nicht für abstrakte Consumer-Kategorien. Und das unabhängig davon, ob es klassische Printprodukte oder moderne e-Angebote sind.

Schwab: Als Publikumsverlag darf am Ende unserer Arbeit nicht nur das Buch stehen, das gut aussieht und sich schön anfühlt. Es geht genauso um die Gestaltung unserer Prozesse zur Contentverwertung in weitere, insbesondere digitale Ausgabeformate.

Güner: Genau, denn letztlich arbeiten wir beide in Wirtschaftsunternehmen, deren Ziel es ist, am Ende des Tages Geld verdienen zu wollen.

Frau Güner, Sie haben eines der aktuellen Buzzwords schon verwendet: Industrie 4.0. Wenn es ums "Kulturgut Buch" geht, ist man durchaus skeptisch bei Begriffen wie "Standards" oder "Automation"; manchmal wird da noch in Karteikarten gedacht. Was kann Industrie 4.0 aus Herstellersicht im Verlagsalltag bedeuten? 

Güner: Ich tue mich etwas schwer mit dem Begriff. Tatsächlich scheint es einer zu sein, den man gerne verwendet. Aber was bedeutet er? Industrie 4.0 verbindet Standardisierung/Automatisierung, wenn man so will, mit Smart Home oder dem Internet der Dinge. Es geht um „industrielle Fertigung“ in Zeiten von Mobilität und Digitalisierung. Schreib-Bots sind dafür ein extrem gutes Beispiel. Wo hat da die Fachinformation Platz? Wo ist dabei die unverzichtbare Leistung der Verlage, wo werden wir unterstützt von Industrie 4.0 und inwieweit verbessern wir unsere Produkte damit? Wir sprechen ja, auch in Irsee, nicht nur über Bücher, sondern ebenso über Zeitschriften und digitale Angebote – und zwar heute und genauso in drei bis fünf Jahren. 

Schwab: Es sind sicher viele Assoziationen mit dem Begriff verbunden, das macht die Sache nicht einfacher. Bezogen auf den digitalen Paradigmenwechsel geht es für uns darum, Informationsströme zu koordinieren. Zum einen das Kompensieren der immer weiter schwindenden Verkaufsflächen im Sortiment. Das heißt, Sichtbarkeit herzustellen, wo wir bisher mit unseren Produkten und unserem Marketing nicht so wahrgenommen werden konnten. Das geschieht, neben den Mitteln der Kommunikation, über eine technologische Infrastruktur – den gezielten Einsatz von Metadaten, das Zusammenführen von Schnittstellen unserer Systeme mit anderen, auch von völlig neuen Playern, mit denen wir bisher gar nichts zu tun hatten. Anders herum geht es nicht nur um’s Senden dieser Informationsströme auf neuen Kanälen, sondern zum Beispiel auch um das Einsammeln, die Analyse, das Monitoring von Kundendaten.

Das ist deutlich mehr, als früher analog getätigte Aufgaben einfach ins Digitale zu überführen? 

Güner: Natürlich kann man mit Hilfe und Einsatz von Technologien extrem viel erfahren. In der Belletristik: Wo hört der Leser auf, zu lesen? Oder in der Fachinformation: Welcher Klick wird nicht mehr gemacht, welches Video wird nie angeschaut? Zum anderen gerät man dann aber sehr schnell in die Versuchung reiner Datenauswertung. Da sollte man aufpassen: Wenn ich als Kundin den Eindruck habe, dass mich ein Verlag nur noch als berechenbares Datenprofil  betrachtet, werden Produkt und Anbieter austauschbar: Derjenige, der meine Bedürfnisse am besten erkennt und für mich am nützlichsten oder attraktivsten umsetzt, "gewinnt" – das war ja eigentlich schon immer so ... Content-Erstellung ist sehr individuell, Produktion und Auslieferung kann hoch automatisiert werden – und der Verkauf im Sinne der Kundenansprache wird zugewandter und individualisierter. Industrie 4.0 beschreibt die modernen Abläufe zwischen Produktkonzeption und Käufer, inklusive der Einbindung in das Internet der Dinge, Bots oder Virtual und Augmented Reality mit allen vorstellbaren Möglichkeiten.

Schwab: Es geht nicht darum, sich der Technologie zu unterwerfen, sondern eher darum, sich Werkzeuge anzueignen, und diese für die eigenen Bedürfnisse und Zwecke einzusetzen. Wofür steht ein Verlag? Das kann man nicht den Algorithmen überlassen! Dazu braucht es eine Haltung! Die spiegelt sich im Programm wider, ebenso in der Kommunikation mit unseren Kunden und unseren Autoren. Die Haltung bestimmt Unternehmensstrategie und nicht Big Data.

Womit wir wieder bei dem wären, was Irsee leisten kann… 

Schwab: Wir möchten gern den 360-Grad-Blick haben, und dann auch über den schmalen Tellerrand des Herstellers oder Produktioners hinausschauen. An den Workshop-Tagen beschäftigen wir uns dann schon mal mit Themen wie Achtsamkeit, Selbsterfahrung, mit Management-Themen. Wir laden auch immer wieder Referenten ein, die aus völlig anderen Branchen kommen, aber uns trotzdem etwas zu sagen haben. Es geht ja nicht nur darum, unsere Inhalte effektiver zu drucken oder zu distribuieren. Wir müssen als Führungskräfte in einem sozialen Umfeld bestehen. 

Güner: Wir wollen den Kolleginnen und Kollegen natürlich auch Sachen mitgeben, bei denen sie sagen: Wow, das kann ich montags am Schreibtisch gleich einsetzen! Also, richtig nah am Arbeitsplatz sein. Und zeitgleich mit Themen konfrontieren, bei denen man zuerst denkt: Hoppla, was hat das mit Herstellung zu tun? Mancher mag sich fragen: ‚Wozu brauch ich Management-Wissen, wir sind zwei Leute in der Abteilung, das kriege ich locker gewuppt?’ Doch wenn man sich dann damit intensiv auseinandersetzt, erkennt man den innovativen Mehrwert für die eigene Arbeit. Wir nennen das gerne "Inspiration Irsee".

Schwab: Wir alle sind einem unglaublichen Termin- und Kostendruck ausgesetzt. Die Gefahr ist groß, zum Getriebenen dieser Anforderungen zu werden. Irsee bietet die Möglichkeit, sich aus dem Alltagsgeschäft herauszuziehen. Das Programm und der intensive Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen sollen dafür sorgen, dass man den Kopf freibekommt, sich mit neuen Ideen auseinandersetzt, auf die man selber nicht gekommen wäre. Um dann auch wieder frisch, motiviert und gestärkt zurückzukommen, fähig zu sein, alte Denkblockaden zu überwinden. Wir dürfen nicht langweilig werden! Das gilt für die Inhalte, die wir herausbringen, für die Ausstattung der Produkte, aber auch für die Art, wie wir arbeiten und miteinander umgehen.

Sich selbst ändern, bevor man geändert wird?

Schwab: Ich denke, die große Herausforderung für Unternehmen in dieser Zeit ist es, sich wirklich zu verändern, bevor das Umfeld sich so stark verändert hat, dass das eigene Geschäftsmodell nicht mehr funktioniert. Diesen Twist hinzubekommen, die Innovation in die eigenen täglichen Abläufe zu integrieren – darum geht es!

Sie beide scheiden nach vier Jahren aus dem Irsee-Gremium aus. Was erhoffen Sie sich von Ihren Nachfolgern? 

Güner: Dass der Blick weiterhin nach vorn und weit über den Tellerrand erhalten bleibt. Und dabei auch praktikable, alltagstaugliche Herstellungsthemen ihren Platz behalten.

Schwab: Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, die einmalige Organisationsform, die wir uns selber gegeben haben, lebendig zu halten. Das Rotations-Prinzip in Gremium und Vorstand ermöglicht uns, die Tagung aus dem Teilnehmerkreis heraus zu planen. Das ist eine ganz wichtige Voraussetzung, ein immer wieder maßgeschneidertes Programm hinzubekommen. Die Mischung macht’s: Man fährt nach Irsee, verbringt dort dreieinhalb Tage miteinander – und kehrt dann mit einem Euphorieschub an seinen Schreibtisch zurück. Irsee zeigt nicht zuletzt, in was für einer spannenden und sympathischen Branche wir arbeiten dürfen.

Dem Internet der Dinge zum Trotz werden Sie an Himmelfahrt weiterhin ganz physisch in Bayrisch-Schwaben zusammenkommen – in drei Jahren zur 70. Tagung. Streicheln Sie dann immer noch begeistert über farbige Vorsatzpapiere? 

Schwab: Unbedingt (lacht). Die werden dann Oberflächen haben, wie wir sie uns heute noch gar nicht vorstellen können. Wer weiß, was uns die Nano-Technologien an Handschmeichlern zur Verfügung stellt?

Claudia Güner ist seit 1995 in der Herstellung tätig. Nach Stationen bei Belser und Thieme war sie ab 2003 als Herstellungsleiterin im Verlag für Standesamtswesen tätig, danach 11 Jahre in gleicher Position bei der Thieme-Tochter MVS Medizinverlage (Stuttgart). Seit Juli 2015 verantwortet Güner die Gesamtherstellungsleitung in der Thieme Verlagsgruppe und mit rund 50 Mitarbeitern. Seit 2003 ist sie Mitglied im AKEP/IG Digital, seit 2007 Referentin beim Landesverband Baden-Württemberg für angehende Medienkaufleute. Seit 2013 ist Claudia Güner Gremiums- und Vorstandsmitglied der Herstellungsleitertagung.

Carsten Schwab, geboren 1979 in Trier, begann seine berufliche Laufbahn mit einer Ausbildung zum Sortimentsbuchhändler. Nach anschließender Tätigkeit als Buchhändler studierte er Mediapublishing und Verlagswirtschaft an der Hochschule der Medien (Stuttgart). Von 2006 bis 2012 arbeitete er im S. Fischer Verlag als Hersteller und verantwortete dort als Projektleiter die Entwicklung und Einführung eines XML-basierten Produktionsworkflows für Print und E-Books. Von 2012 bis 2014 war er Herstellungsleiter im Hoffmann und Campe Verlag, seit 2015 leitet er die Herstellung des Diogenes Verlags. Er engagiert sich in der IG Digital des Börsenvereins (vormals AKEP) und ist seit 2013 Gremiums- und Vorstandsmitglied der Herstellungsleitertagung.

Die 67. Arbeitstagung der Herstellungsleiter

  • Vom 25. bis zum 27. Mai treffen sich die Herstellungsleiter der Verlage zu ihrer jährlichen Arbeitstagung im schwäbischen Tagungs- und Bildungszentrum Kloster Irsee.
  • Auf der Agenda stehen Vorträge und Workshops zu Themen wie 3-D-Druck, barrierefreie E-Books, Verhandlungstechniken, analoge Trends und agile Führung in der Herstellung.