Gespräch mit der Übersetzerin Claudia Sinnig

"Litauisch ist ungeheuer differenziert"

12. Januar 2017
Redaktion Börsenblatt
Litauische Literatur ins Deutsche zu übertragen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Claudia Sinnig stellt sich dieser Herausforderung gern. Im Gespräch mit Holger Heimann gibt die Übersetzerin Einblicke in die Literaturlandschaft und die Kultur des baltischen Staats.

Die litauische Literatur ist bei uns nahezu ­unbekannt. Woran liegt das?Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen. Litauen ist ein kleines Land, und die Deutschen schauen sicher eher auf größere Länder. Wenn ihr Blick dann doch auch einmal auf kleinere Staaten fällt, dann haben die, wie die Niederlande, bereits ein bestimmtes Image. Ich denke, dass vielen die Beschäftigung mit litauischer Kultur einfach zu mühsam ist. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden die neu entstandenen Staaten vielfach nicht wirklich für sich betrachtet, sondern immer noch als Komplex "ehemalige Sowjetunion". Dabei hätte uns diese Literatur sehr viel zu sagen, weil die Menschen einfach akuter der Geschichte ausgesetzt waren und daher für viele Dinge ein ausgeprägtes seismografisches Bewusstsein haben.

Kann man diese besondere Empfindsamkeit in den Büchern wiederfinden?Ja. Aber das ist wie beim Reisen. Jeder findet das, wofür er bereit ist. Aber klar ist: Die Menschen in einem Land, das immer wieder von fremden Mächten beherrscht wurde, wo der Alltag unsicher war, entwickeln besonders subtile Formen der Wahrnehmung. Das schlägt sich auch in den Texten nieder.

Ist die Sowjetzeit noch immer ein wichtiges Thema oder konzentrieren sich die Autoren stärker darauf, Transformationsprozesse seit der Unabhängigkeit darzustellen?Beides spielt eine Rolle. Stark vereinfacht und schematisch betrachtet, könnte man sagen: Die Älteren schreiben über die Sowjetzeit, die Jungen über die jüngere Vergangenheit und Gegenwart.

Ist das Litauische eine komplizierte Sprache, stellt es besondere Herausforderungen an deutsche Übersetzer?Nein, aus dem Litauischen zu übersetzen ist nicht schwerer als aus dem Französischen. Aber es ist eine ungeheure formenreiche, differenzierte Sprache, das macht jede Übersetzung herausfordernd. Nur ein Beispiel: Es gibt eine Vielzahl von Verben, weil häufig noch Unterformen existieren. Wenn Sie im Litauischen ausdrücken wollen, dass jemand langsam geht oder nur ein kurzes Stück geht, dann fügen Sie einfach unterschiedliche Suffixe an das Wort "eiti" (gehen) an.

Welche Bedeutung hat die Literatur der Exilanten?Die Bedeutung ist ungeheuer groß, die Exilanten haben das Land, den literarischen und kulturellen Kanon sehr stark geprägt nach der Unabhängigkeit. Der größte Teil der Bildungs­bürger ist während des Zweiten Weltkriegs vor der zweiten sowjetischen Okkupation in den Westen geflohen. Unter diesen Exilanten sind viele, die sich seitdem Gedanken darüber gemacht haben, wie ein anderes, modernes, kosmopolitisches Litauen aussehen könnte. Sie haben somit den Staat vorgedacht, der dann in den 90er Jahren Wirklichkeit geworden ist.

Gibt es eine baltische Literaturtradition oder unterscheiden sich die Kulturen und Literaturen in Estland, Lettland und Litauen doch eher voneinander?
Die drei Länder sind sich weniger nah als es von außen betrachtet vielleicht scheint und als es vielleicht gut für sie wäre. Lettland und Estland waren lange sehr stark durch Deutschland und den Protestantismus geprägt. Sie haben sich außerdem immer stark zur Ostsee hin orientiert. Litauen hingegen hatte immer eine enge Verbindung zu Polen und ist auch heute mehrheitlich katholisch und eher landorientiert. Außerdem gibt es große sprachliche Unterschiede. Estnisch ist eine finno-ugrische Sprache – und gehört damit zu einer ganz anderen Sprachfamilie. Das Lettische und das Litauische hingegen sind indogermanische Sprachen. All das schlägt sich in unterschiedlichen literarischen Traditionen nieder.

Wie leben Schriftsteller in Litauen?
Es ist unglaublich schwer, den Alltag zu bestreiten. Alle Schriftsteller, auch Bestsellerautoren, sind abhängig von Stipendien und Preisen, doch davon gibt es viel zu wenig. Einige produzieren gut bezahlte Auftragswerke für Oligarchen, andere arbeiten schlecht bezahlt als Journalisten oder Wissenschaftler. Das bedeutet natürlich, dass sie wenig Zeit haben für das, was sie eigentlich tun wollen: Bücher schreiben.