Verlage erfahren nur sporadisch, wie Leser bestimmte Bücher finden – und das in der Regel auch erst dann, wenn diese längst erschienen sind. Reader Analytics könnte da ein neues Tor aufstoßen, sind sich viele einig. Fragt sich nur zu welchem Preis.
Die IG Digital im Börsenverein holte diese Frage ans Licht, brachte gestern auf der Bühne im Hot Spot Professional & Scientific Information (Halle 4.2) bei einer von Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen moderierten Diskussion vier ganz unterschiedliche Protagonisten zusammen:
- Michael Döschner-Apostolidis, Verlagsleiter elektronisches Publizieren bei Droemer-Knaur in München und zugleich Sprecher der IG Digital,
- Matthias Ulmer, Verleger im Eugen Ulmer Verlag in Stuttgart und Vorsitzender des Verleger-Ausschusses,
- die Autorin Susanna Ernst ("Nur einen Traum entfernt", Droemer Knaur) und
- Andrew Rhomberg, Chef des britischen Reader Analytics-Dienstleisters Jellybooks, der seit rund einem Jahr auch in Deutschland aktiv ist.
„Amazon trackt seit Jahren alles mit."
Droemer Knaur-Verlagsleiter Michael Döschner-Apostolidis setzt Reader Analytics ein, arbeitet dabei mit Jellybooks zusammen – ist enthusiastisch, schaut in erster Linie auf die Vorteile. "Zum ersten Mal in der Leserforschung schauen wir auf Realzustände", argumentierte er, überzeugt davon, dass sich hier für Verlage eine, wie er sagte, "historische Chance" auftue – dass sie näher an die eigenen Zielgruppen sein und auch die Marketingetats besser aussteuern könnten. "Bisher wissen wir nur wenig über unsere Leser" – im Unterschied zu Händlern: "Amazon trackt seit Jahren alles mit, kennt seine Buchkäufer und gestaltet mit diesem Wissen den Markt."
Matthias Ulmer nickte an dieser Stelle – und wollte, musste, doch widersprechen. Lediglich an den monetären Gewinn zu denken, führe in die falsche Richtung, vielleicht sogar in eine Sackgasse, kritisierte er. „Uns fehlt eine sinnvolle Diskussion darüber, was da gerade passiert.“ Datenschutz, Geheimdienste, Einfluss auf das Lektorat – das sei alles noch unklar.
Steve Jobs wäre nie erfolgreich gewesen, hätte er sich nur auf Statistik verlassen. „Wir sollten aufpassen, dass uns die Daten nicht dumm machen.“ Verlage seien gar nicht darauf vorbereitet, aus Leserdaten die richtigen Schlüsse zu ziehen. Weltbild, früher, sei das beste Beispiel dafür gewesen: „Das Unternehmen wusste immer alles besser und hat doch nur Mainstream produziert, von dem am Ende niemand mehr etwas wissen wollte.“ Als Verleger brauche er keine Leserdaten, um Bücher zu verkaufen – „wir kennen unsere Communitys, zumal beim Fachbuch, auch so“.
Die Medaille hat zwei Seiten, eine wirtschaftliche und kulturelle – die beiden Kontrahenten ließen daran keinen Zweifel. Einig waren sie sich aber darin, dass Leserdaten nicht über die Programme entscheiden und Lektoren unter Druck setzen sollten.
„Reader Analytics sollte auch im Lektorat eine Rolle spielen.“
Autoren scheinen die Sache entspannter zu sehen. Zumindest Susanna Ernst, die über die Selfpublishingschiene (Neobooks/Droemer Knaur) ihren Weg machte. Sie hat zwar, was ihre eigenen Bücher angeht, wenig Erfahrung mit dem Verfahren Reader Analytics – aber auch kaum Berühungsängste. „Feedback von Lesern ist interessant für mich, ich halte über Social Media ständig Kontakt zu ihnen.“
Ohne das Feedback ihrer Leser, sagte Ernst, sei ihr Leben als Autorin wahrscheinlich völlig anders verlaufen. „Sie haben mich gepusht in einer Zeit, als Lektoren meine Manuskripte noch ablehnten.“ Wenn Reader Analytics nicht nur bei Marketingentscheidungen eine Rolle spielen würde, sondern bereits im Lektorat – da habe sie keine Bedenken. „Vielleicht führt das ja auch zu mutigeren Entscheidungen.“
„Agil arbeiten? Das kann heute noch kein Verlag.“
Andrew Romberg („Ich bin Kritik gewöhnt“) mag es nüchtern, sah sich in der Debatte eher als Randfigur. Zurückgelehnt verfolgte er das verbale Tauziehen zwischen Michael Döschner-Apostolidis und Michael Ulmer, blieb vorsichtig – wehrte sich aber dagegen, beim Thema Reader Analytics alles und alle in einen Topf zu werfen. „Amazon trackt alles, wer bei uns mitmacht, weiß genau, das seine Leseverhalten aufgezeichnet wird.“ Jellybooks helfe Verlagen zu verstehen, wie Leser mit einem Buch umgehen, wie sie es finden und wer sie sind – letztlich Fehler zu vermeinden und ihre Profitabilität zu steigern.
Jellybooks arbeitet mit Leseproben und wertet im Auftrag von Verlagen vor allem drei Faktoren aus: Ob sie den Text fertiglesen (oder nicht), ob sie das Buch anderen empfehlen würden (oder nicht) und ob sie finden, dass das Cover zu viel versprochen hat. „Was wir machen fällt eher unter Smart Data, nicht unter Big Data“, erklärte Romberg – „wir erfassen Daten nur gezielt.“
Doch so überzeugt Romberg von seiner Sache auch ist: Einen Haken sieht er nach einem Jahr Erfahrung mit deutschen Verlagen dennoch – in den starren Abläufen. „Sobald sie sich für ein Buch entschieden haben, sind in den Prozessen keine Korrekturen mehr möglich. Agil arbeiten? Das kann heute noch kein Verlag.“