Wie Gewalt, Hass und Sprachlosigkeit den Menschen verändern können – das beschreibt Carolin Emcke in ihren Büchern, Reden und Artikeln, in denen sie auch aus den Krisengebieten dieser Welt berichtet. "Mit analytischer Empathie appelliert sie an das Vermögen aller Beteiligten, zu Verständigung und Austausch zurückzufinden", heißt es in der Begründung der Friedenspreisjury. Dieser Leitlinie folgte auch ihre klare und eindringliche, aber auch ermutigende und humorvolle Dankesrede in der bis auf den letzten Platz besetzten Paulskirche.
"Als ich mich das erste Mal in eine Frau verliebte, ahnte ich nicht, dass damit eine Zugehörigkeit verbunden wäre. Ich glaubte noch, wie und wen ich liebe, sei eine individuelle Frage, eine, die vor allem mein Leben auszeichnete und für andere, Fremde oder gar den Staat, nicht von Belang", sagte Emcke in ihrer Friedenspreisrede: "Es ist eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung, dass etwas so Persönliches für andere so wichtig sein soll, dass sie für sich beanspruchen, in unsere Leben einzugreifen und uns Rechte oder Würde absprechen wollen."
Als gäbe es eine Obergrenze für Menschlichkeit
So verbinde sich etwas, das einen glücklich mache, mit etwas, das einen verletze und wund zurücklasse. "Weil wir immer noch, jeden Tag, Gründe liefern sollen dafür, dass wir nicht nur halb, sondern ganz dazugehören. Als gäbe es eine Obergrenze für Menschlichkeit", so Emcke.
Es sei eigenartig für sie, als Autorin zwar Bücher schreiben zu dürfen, die in Schulen unterrichtet werden – zugleich aber die gleichgeschlechtliche Liebe nach der Vorstellung mancher Eltern in Schulbüchern maximal "geduldet" werden solle. Oder anders formuliert: "Wir dürfen Reden halten in der Paulskirche, aber heiraten oder Kinder adoptieren dürfen wir nicht? Manchmal frage ich mich, wessen Würde da beschädigt wird: unsere, die wir als nicht zugehörig erklärt werden, oder die Würde jener, die uns die Rechte, die zu uns gehören, absprechen wollen?"
Menschenrechte, so die Friedenspreisträgerin, seien kein Nullsummenspiel. Niemand verliere seine Rechte, wenn sie allen zugesichert würden: "Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird. Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen. Das ist der Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft."
Die soziale Pathologie unserer Zeit
Die Autorin, die bei S. Fischer gerade ihr Buch "Gegen den Hass" veröffentlicht hat, zitierte den Schriftsteller Tzvetan Todorow: "Die Verschiedenheit verkommt zur Ungleichheit, die Gleichheit zur Identität." Das sei die soziale Pathologie unserer Zeit, sagte Emcke: "Dass sie uns einteilt und aufteilt, in Identität und Differenz sortiert, nach Begriffen und Hautfarben, nach Herkunft und Glauben, nach Sexualität und Körperlichkeiten spaltet, um damit Ausgrenzung und Gewalt zu rechtfertigen."
Derzeit grassiere ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa, so Emcke weiter. Pseudo-religiöse und nationalistische Dogmatiker würden die Lehre vom "homogenen Volk", von einer "wahren" Religion, einer "ursprünglichen" Tradition, einer "natürlichen" Familie und einer "authentischen" Nation propagieren: "Sie ziehen Codes und Begriffe ein, mit denen die einen aus- und die anderen eingeschlossen werden sollen. Sie teilen willkürlich auf und ein, wer dazugehören darf und wer nicht."
Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädige nicht nur diejenigen, die er sich zum Opfer suche, sondern alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollten. "Das Dogma des Homogenen, Reinen, Völkischen verengt die Welt. Es schmälert den Raum, in dem wir einander denken und sehen können. Es macht manche sichtbar und andere unsichtbar."
Handelnd eingreifen in die sich zunehmend verrohende Welt
In Wahrheit jedoch gehe es gar nicht um Muslime oder Geflüchtete oder Frauen, warnte die Friedenspreisträgerin: "Sie wollen alle einschüchtern, die sich einsetzen für die Freiheit des einzigartigen, abweichenden Individuellen. Deswegen müssen sich auch alle angesprochen fühlen". Die Antwort auf Hass und Verachtung lasse sich deshalb nicht einfach nur an die Politik delegieren, mahnte Emcke. Für Terror und Gewalt seien zwar Staatsanwaltschaften und Ermittlungsbehörden zuständig, "aber für all die alltäglichen Formen der Missachtung, der Demütigung, für all die Zurichtungen und Zuschreibungen in vermeintlich homogene Kollektive, dafür sind wir alle zuständig."
Was ist zu tun? Emckes Antwort: Haltung zeigen! "Wir können", so die Publizistin in Anspielung auf Hannah Arendt, "sprechend und handelnd eingreifen in die sich zunehmend verrohende Welt. Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: Die Begabung zum Anfangen." Demokratische Geschichte, so Emcke, werde von allen gemacht. Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft sei etwas, das man lernen müsse, immer wieder von neuem. "Ist das mühsam? Ja, total!", räumte die Friedenspreisträgerin ein. Und natürlich werde es dabei zu Konflikten kommen. "Aber", so Emcke, "warum sollte es auch einfach zugehen?"
Die Preisträgerin ging in ihrer Rede auch kurz auf den umstrittenen Satz von Martin Walser ein, der 1998 bei seiner Auszeichnung mit dem Friedenspreis gesagt hatte, Auschwitz eigne sich nicht als Moralkeule. Sie könne nicht in der Paulskirche stehen, ohne an diesen "nicht nur für Ignatz Bubis furchtbar schmerzlichen Moment in der Geschichte dieses Preises" zu erinnern, sagte Emcke. Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden saß in jenem Jahr im Publikum und bezeichnete Walsers Passage später als "geistige Brandstiftung".
Eine, die sich der Sprachlosigkeit widersetzt
Dass Carolin Emcke "eine der einflussreichsten Intellektuellen unserer Zeit" sei und als Erzählerin eine einmalige Mischung aus Reportage, philosophischer Reflektion, und literarischer Komposition geschaffen habe, machte ihre Laudatorin Seyla Benhabib deutlich, Professorin für Politische Theorie und Philosophie an der Yale University in den USA: Die Friedenspreisträgerin habe die Gabe, "die Dinge so benennen und erzählen zu können, dass das Schweigen, in das sich Gewalt, Grausamkeit und Folter hüllen, durchbrochen wird. Sie widersetzt sich der Sprachlosigkeit, die sowohl jene befällt, die gefoltert, verstümmelt, geschlagen und vergewaltigt wurden, als auch jene, die ihre eigene Ohnmacht unter Vortäuschung von Macht zu verstecken suchen."
"Flüchtlinge leben in einem kafkaesken Zustand"
Benhabib nutzte die Laudatio auch für deutliche Kritik an der aktuellen Flüchtlingspolitik der EU: Die Genfer Konvention sei in erster Linie auf die Opfer des Naziregimes und auf politische Dissidenten zugeschnitten. In Syrien und anderen Ländern würden Menschen aber nicht als Einzelpersonen verfolgt, sondern seien kollektive Opfer von Gewalttaten. Die Europäische Union müsse deshalb die zentralamerikanische Cartagena Erklärung von 1984 in Betracht ziehen, die ausdrücklich und unter anderem auch jene Menschen einschließe, die flüchten, weil ihr Leben durch allgemeine Gewalt bedroht ist. Die EU müsse die Last mindern, die derzeit auf Erstaufaufnahmeländern wie Griechenland, Italien und Spanien, aber vor allem auf den Flüchtlingen ruhe, die dort festsitzen, bis ihre Anträge aufgearbeitet sind. "Während dieser Zeit befinden sich diese Menschen in einem kafkaesken Zustand", betonte Benhabib: Sie stünden "vor dem Gesetz" und seien Gesetzen unterworfen - "ohne aber vor ihnen gleich zu sein."
Mit einem Gedicht von Rose Ausländer begann Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller sein Grußwort: Poesie, so Riethmüller, sei subversiv, sei Machthabern und Diktatoren suspekt – "das sieht man beispielsweise an den aktuellen Entwicklungen in der Türkei oder in Russland. Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler werden als erste weggesperrt, nicht aus Angst vor ihren Waffen, sondern vor der Macht ihrer Worte." Carolin Emcke zeige in ihren Werken immer wieder, dass es einen Zusammenhang zwischen Gewalt und Sprache und Gewalt und Sprachlosigkeit gebe.
"Solange wir in einer Welt leben, in der überall Krieg herrscht, kein Frieden nirgends, braucht es Stimmen, die Frieden und Menschlichkeit anmahnen": Das betonte auch Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann in seiner kurzen Ansprache - Stimmen wie die von Carolin Emcke.
Nachlesen lassen sich die Reden hier – und im kommenden Börsenblatt. Außerdem erscheint in der nächsten Woche, wie gewohnt, ein vom Börsenverein herausgegebenes Buch zur Friedenspreisverleihung. Die TV-Übertragung der Preisverleihung ist hier in der Mediathek der ARD abrufbar.
cro
Sozialistisches Politgeschwafel mit typischer contradictio eo ipso. Analysiert wird etwas ausschließlich mit dem Verstand, nicht mit dem Gefühl (Empathie).
Tragisch, dass sich nach ihrer Rede die Gemüter so erhitzen.-
Gott sei Dank hat Astrid Lindgren in ihrer Rede nicht gesagt:
"Ich bin heterosexuell."-