Öffentliche Bücherschränke erobern Deutschland im Sturm. Das Prinzip ist simpel: Der Schrank steht im öffentlichen Raum, für jedermann zugänglich. Wer mag, nimmt sich Bücher heraus, wer mag, stellt welche hinein. Kostenlos, unverbindlich, anonym ist das Ganze, und frei von Formalitäten: Es gibt keine Mitgliedschaft, keine Beiträge, keine Leihfristen. Ziel ist ein Austausch zwischen Lesenden, der einem gebrauchten Buch im besten Fall zu einem zweiten oder gar dritten Leben verhilft. Die Liste der Betreiber ist nahezu unerschöpflich: städtische Projekte, gemeinnützige Vereine, Privatpersonen, Autohäuser, Geldinstitute engagieren sich. Regeln? Braucht es nicht. Oder doch: Pornografie, politische und religiöse Schriften werden aussortiert.
Das Konzept der öffentlichen Schränke wird häufig mit dem des Bookcrossing verglichen, jener virtuellen Bibliothek, bei der ein Nutzer sein Buch im Internet registriert und anschließend frei lässt – in einem Zug, auf einer Parkbank, in einem Hörsaal. Wer das Exemplar findet, kommentiert kurz auf bookcrossing.com, so zumindest die Theorie. Im Idealfall kann der ursprüngliche Besitzer verfolgen, wo sein Buch gelandet ist. Öffentliche Bücherschränke erweitern diese Idee um einen festen Standort, der zusätzlich einen positiven Effekt auf die Nachbarschaft hat: Leute bleiben stehen, kommen ins Gespräch. Ein Beispiel: In der Stadt Forst (Lausitz) dient seit Oktober 2012 eine Litfaßsäule als Bücherschrank. Initiator ist das Förderprogramm "Soziale Stadt".
Vom Kunstprojekt zum Massenphänomen
Seinen Ursprung hat der öffentliche Bücherschrank in einem Kunstprojekt: Zwei amerikanische Künstler, Michael Clegg und Martin Guttmann, funktionierten Anfang der 90-er Jahre Stromschaltkästen in Graz, Hamburg und Mainz zu "offenen Bibliotheken" um. Der Darmstädter Michael Ibsen nahm die Idee mit nach Hause und stellte 1996 im Johannesviertel ein Holzregal auf den Bürgersteig, das er auf dem Sperrmüll gefunden hatte. Ganz offiziell wurde es 2002 in Bonn: Dort hatte die Bürgerstiftung einen Wettbewerb zur Verbesserung des gesellschaftlichen Lebens in der Stadt ausgeschrieben. Den Zuschlag erhielt die Architekturstudentin Trixy Royeck, die die Idee des Künstlerduos aufgriff. Ein Jahr später war es soweit: An der Poppelsdorfer Allee wurde der erste öffentliche Bücherschrank Deutschlands eingeweiht. Inzwischen gibt es in Bonn neun weitere, und viele deutsche Städte haben nachgezogen: 1.577 Exemplare zählt die Seite www.openbookcase.org derzeit. Zum Vergleich: In Großbritannien gibt es 13, in Frankreich und Spanien je einen − das Phänomen ist ganz klar ein deutsches.
Konkurrenz für Buchhändler?
In einer kürzlich auf börsenblatt.net veröffentlichten Umfrage (Stichtag: 4. August) sind 37 Prozent der Befragten der Meinung, öffentliche Bücherschränke belebten das Geschäft. 63 Prozent halten sie für umsatzschädigend. Wie begründet ist diese Furcht? Tatsächlich werden die Angebote stark genutzt. Etwa alle zwei Tage seien die Schränke, die etwa 250 Titel fassen, komplett neu befüllt, schätzt Jürgen Reske von der Bürgerstiftung Bonn: "Ich sage immer, wenn ich ein Telefonbuch von 1972 einstellen würde, wäre das irgendwann auch weg". Das Beispiel ist gar nicht schlecht gewählt: "Erfahrungsgemäß findet sich in Bücherschränken wenig aktuelle Literatur, dafür viel Zerlesenes, viele populäre Romane der Sechziger und Siebziger Jahre", sagt Patrick Musial von der Buchhandlung Musial in Recklinghausen. "Ich würde gar nicht auf die Idee kommen, das als Konkurrenz zu betrachten". Auch Jutta Ziegler von Baufachfrau Berlin e.V., Mitinitiatorin des Bücherwaldes im Berliner Prenzlauer Berg, hält die Angst vor Umsatzeinbußen für unbegründet: "Die Leute stellen keine Erstausgaben da rein. Es gibt Reiseliteratur, vielleicht mal einen Excel-Ratgeber, insgesamt sehr wenig Neues". Wer gezielt nach Titeln oder Themen suche, ginge in eine Buchhandlung, so Ziegler.
"Der Bücherschrank lebt vom Zufallsprinzip", bestätigt Birte Hansen-Kohlmorgen, die als Leiterin der Abteilung Literatur- und Leseförderung den jüngst eingeweihten öffentlichen Bücherschrank des Börsenvereins betreut. Zur Eröffnung hatte der Buchpreisträger 2015, Frank Witzel, ein signiertes Exemplar seines Gewinnertitels eingestellt. Buchhandlungen seien nicht nur besser, sondern überhaupt erst einmal sortiert, meint Hansen-Kohlmorgen und appelliert an das Selbstbewusstsein der Zunft: "Jeder Buchhändler sollte wissen, dass ihm so ein zufälliges Sammelsurium nicht den Rang ablaufen kann." Das sieht Musial genauso: "Wenn man seine Sache gut macht und Spaß hat, sollte man nicht immerzu besorgt sein". Dieserart Bedenken seien jedoch "ein wenig typisch für unsere Branche", so Musial, für die von allen Seiten immer Unheil zu drohen scheine. "Da wünsche ich mir manchmal von uns allen etwas mehr Offenheit neuen Ideen gegenüber."
Umstrittene Standortfrage
"Für mich ist nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet Bücher nichts kosten sollen, selbst wenn sie gebraucht sind", meint hingegen Philine Meyer-Clason, Inhaberin der Tucholsky-Buchhandlung am Münchner Josephsplatz: "Kein Mensch käme auf die Idee, eine kostenlose Würstchenbude vor eine Metzgerei zu stellen". Ganz kurzfristig erfuhr die Buchhändlerin von Plänen der Stadt, schräg gegenüber von ihrer Buchhandlung einen öffentlichen Bücherschrank einzurichten: "Ich empfand das als eine Zumutung", sagt Meyer-Clason. "Da stehen Sie den ganzen Tag im Laden, versuchen ein gutes Sortiment für die Kunden zusammenzustellen und dann sammeln sich die Leute vor dem Schrank und holen sich ihre Lektüre da."
Eine Erfahrung, die ihre Kollegen von der Münchner Buchhandlung Krammel & Meier tatsächlich schon gemacht haben: "Es gibt Tage, da bin ich im Geschäft alleine, gucke aus dem Fenster und sehe vier oder fünf Leute um den Bücherschrank stehen. Da sagt man dann halt: Na ja!", sagt Inhaberin Friederike Meier, relativiert jedoch: "Wir können hier in München Schwabing glücklicherweise auch Einbußen wieder wett machen". Ihre Kritik setzt weniger am Konzept als an der Planung und Umsetzung des Schrankes an: "Warum kann ein Bezirksausschuss die Standortfrage nicht gemeinsam mit der nächst gelegenen Buchhandlung klären? Ich finde, auch der Börsenverein sollte sich hier einsetzen."
Demokratische Abstimmung
Eine demokratische Abstimmung bewahrte Philine Meyer-Clason vor der Bedrohung von gegenüber: "Ich habe bei der Ortsbegehung mit allen und jedem gesprochen", sagt sie. Ein Alternativstandort scheiterte am Veto eines Antiquariats. Jetzt sind die Pläne für das Viertel erst einmal auf Eis gelegt. Und das ist richtig so, findet Meyer-Clason: "Ich bin nicht grundsätzlich gegen diese Schränke. Nur sollten sie bitte in Vierteln aufgestellt werden, wo Leute wenig bis keinen Zugang zu Büchern haben, wo in den Haushalten nicht viel gelesen wird." Und auch Meier bleibt objektiv: "Wir hatten zu Beginn des Bücherschrankes Kunden, die sich explizit verabschiedet haben, weil sie genug Lesefutter in dem Schrank fänden. Auf der anderen Seite haben wir auch Kunden, die sagen, toll, dass sie alte Sachen loswerden, da haben sie Platz für neues."
Vorteile eines eigenen Bücherschranks
Sortimenter, die sich entschieden haben, selbst einen Bücherschrank zu betreiben, scheinen den Schritt nicht zu bereuen. Annette Pagel von der Hähnelschen Buchhandlung in Hachenburg hat 2010 in einer ausrangierten britischen Telefonzelle eine kleine "Tauschbücherei" eröffnet und damit bislang nur gute Erfahrungen gemacht. "Viele Kunden haben uns für die Idee gelobt", sagt sie. Das Telefonhäuschen werde bei jeder Stadtführung gezeigt und sei zudem inzwischen zu einer Anlaufstelle beim Geocoaching geworden. "Da mit einem Schild auf die Sponsoren hingewiesen wird, sehen wir das als gute Werbung für Bücher und für uns", sagt Pagel und gibt sich selbstbewusst: "Die Tauschbücherei hat nach unseren Erfahrungen weder negativen Einfluß auf unseren Umsatz, noch wird ein Kunde deswegen weniger Bücher kaufen."
Das sieht auch Lucia Bornhofen, Buchhändlerin in Gernsheim, so: "Menschen, die sich Bücher nicht leisten können sowie Leute, die gern sparen, wo sie nur können, wären im Zweifelsfall auch keine Buchhandlungskunden." Bei allen anderen würde die Leidenschaft nur verstärkt. "Leselust erschöpft sich nicht dadurch, dass man sich ein Buch aus einem öffentlichen Bücherschrank geholt hat. Ganz im Gegenteil: Sie wird dadurch erst angefacht", so Bornhofen, die den Siegeszug der Schränke begrüßt: "Alles, was dafür sorgt, dass gelesen wird, ist positiv zu bewerten". Sagen wir: fast alles: "Wenn hauptsächlich Bücher aus Haushaltsauflösungen eingestellt werden, die auch so riechen wie Bücher aus Haushaltsauflösungen, dann führt sich so ein Schrank schnell ad absurdum", gibt Bornhofen zu bedenken. Ein gut gepflegter Schrank hingegen sei eine schöne Ergänzung der Buchlandschaft.
"Ein Schrank muss betreut werden, um sein Potenzial zu erfüllen", ist auch Patrick Musial überzeugt, der in Zukunft gern eine Patenschaft in Recklinghausen übernehmen würde. Er stellt auf seinem Nachhauseweg deshalb manchmal Leseexemplare in einen offenen Bücherschrank, die mit Aufklebern der eigenen Buchhandlung versehen sind. Dabei geht es ihm jedoch nicht nur um Werbung. Wichtig sei vor allem, die Leseexemplare auch als solche zu kennzeichnen, damit niemand die Bücher entfernen und weiterverkaufen kann, so Musial. Vielmehr würden sie mit dem kostenlosen Austausch einem guten Zweck zugeführt: "Das ist uns lieber, als defekte Exemplare zum Ramschpreis zu verkaufen. Es erhält den Wert des Buches besser."
Heimliche Helfer
Die Nutzer sind dankbar: Fast alle Bücherschränke werden von Ehrenamtlichen versorgt und gepflegt, die namentlich nirgendwo erfasst sind. "Wir haben mal einen Aushang gemacht – wer seid Ihr?", sagt Jürgen Reske, "da hat sich kein Einziger gemeldet." Und doch würden die Bücher regelmäßig geordnet, geradegerückt, erneuert: "Es gibt diese Menschen an allen Schränken", ist Reske überzeugt. Eigentlich schön: Wer gibt, der bekommt auch zurück.
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"Das nächste Buch wird bei uns gekauft"
Drei Fragen an die Buchhändlerin Susanne Lux, Inhaberin der Nimmerland Kinderbuchhandlung in Mainz.
Sie sind Buchhändlerin und betreiben nebenher selbst einen öffentlichen Bücherschrank. Was hat Sie dazu bewogen?
Ich bin ja Kinderbuchhändlerin. Da muss die Leseförderung im Mittelpunkt stehen. Können Kinder zu viel lesen? Sicher nicht! Ich möchte mit unserem Bücherhäuschen dazu beitragen, dass Kinder genügend Lesefutter haben, auch wenn ihre Eltern sich nicht darum kümmern (können).
Stichwort Wertverfall der Bücher: Warum sollen ausgerechnet Bücher nichts kosten dürfen?
Entschuldigung, aber das ist doch Unsinn! Wir sprechen schließlich nicht von neuen oder neuwertigen Büchern. Die sollen, müssen und dürfen kosten und zwar anständig, so dass alle in der Kette davon gut und ordentlich leben können. In den Bücherschränken landen Bücher, die bereits gelesen, vielleicht schon durch mehrere Hände gegangen sind, häufig sogar in erbärmlichem Zustand. Wir bestücken die "Little Free Library", die im Übrigen auch ordentlich registriert ist, außerdem mit älteren Leseexemplaren, die damit auch noch ein gutes Dasein führen können. Wir werden häufig gefragt, wo man alte Bücher abgeben kann. Die Menschen möchten Bücher nicht wegwerfen − das ist doch ein gutes Zeichen für deren Wertschätzung! Bücherschränke sind da eine hervorragende Lösung.
Beeinflusst der Bücherschrank Ihr Geschäft negativ?
Überhaupt nicht. Unser Bücherhäuschen steht direkt vor dem Laden. Ich beobachte mehrmals täglich, dass vor allem Kinder regelmäßig vorbeikommen und nach neuen Büchern schauen. Das ist eine ungeheuer wirkungsvolle PR für uns! Wer mit diesen Büchern angefüttert ist, der oder die liest auch weiter. Und das nächste Buch wird dann bei uns gekauft!
Susanne Lux betreibt die Nimmerland Kinderbuchhandlung in Mainz.