Bislang reichte die Bibel auf dem Nachttisch. Ist es Zufall, dass die Hotelzimmer im Tagungs- und Bildungszentrum Kloster Irsee neuerdings mit schicken Flachbildschirm-Fernsehern ausgestattet sind – oder hat die "Schlacht ums Wohnzimmer" jetzt auch Bayrisch-Schwaben erreicht? Wer gedacht hatte, dass die Medienrevolution nach Musik- und Printmarkt an ein vorläufiges Ende gekommen sei, wurde vom Medienjournalisten und Blogger Richard Gutjahr, der als Keynote-Speaker der 66. Herstellungsleitertagung eloquent die Rolle des provokanten Orakels ausfüllte, unsanft in die Wirklichkeit zurückgeholt.
Vor dem Sturm
Mit den Veränderungen beim Fernsehen stehe uns der "große Tsunami, der die digitale Disruption um ein Vielfaches steigern wird", noch bevor. Schon heute können die Jungen mit dem klassischen Konzept des Filzlatschen-Kinos wenig anfangen, für sie ist "Fensehen wie Youtube – nur kaputt". Zwar schauen noch immer 85 Prozent der Deutschen ganz klassisch linear fern, doch in den letzten fünf Jahren hat sich die Art der "medialen Ernährung" bei den jüngeren Zielgruppen radikal in Richtung Netz und Mobile verlagert, mehr und mehr wird das Smartphone zur Content-Schaltzentrale. Noch dominieren die älteren Semester die messbare Mediennutzung, würde man die demographische Entwicklung ernst nehmen, ist Gutjahr überzeugt, könnte man das Jahr des endgültigen turn-arrounds ziemlich exakt vorherbestimmen. Öffentlich-rechtliche Anstalten, die den Umbau auf "trimediale" Konzepte forcieren, vergessen, was Streaming-Anbieter wie Netflix oder Amazon längst auf dem Schirm haben: "Das Internet ist eine Infrastruktur, kein Medium." Schon heute, so beobachtet Gutjahr, wandern die besten Köpfe von ARD und ZDF zu Google & Co. ab; wie lange wird es dauern, bis Facebook – schon heute die weltgrößte Content-Abspielfläche – eigene Inhalte produziert? "Dafür, dass wir wenigstens noch gefunden und gesehen werden, geben wir freiwillig Kontrolle über unsere Inhalte ab." Das könnte sich bitter rächen.
Jede Menge Bewegung
Brachte Gutjahrs Auftritt einen Hauch re:publica nach Irsee, ging es beim "Live Hacking" mit "Security Consultant" Christoph Ritter (SySS, Tübingen) im barocken Kloster zu wie beim Jahrestreffen des Chaos Computer Clubs. Schließlich muss, wer sich vor Hackerangriffen schützen will, auch wissen, wie Hacker vorgehen und agieren. Die 92 Frauen und Männer, die an Himmelfahrt ins Kloster Irsee pilgerten, wissen natürlich, dass der Zukunft kaum mit einem lustigen Halali auf Google beizukommen ist. Die digitale Transformation, der Vormarsch der e-Medien in den Alltag stellt die Führungskräfte in den Herstellungsabteilungen aller Verlage vor gewaltige Aufgaben. Wandel ist, noch immer, das Wort der Stunde; Herstellerinnen und Hersteller sind die Treiber dieser Entwicklung. Der Einzug neuer Technologien verändert nicht nur Hierarchien und Strukturen in den Firmen, er macht, ganz buchstäblich, auch vorm eigenen Arbeitsplatz nicht halt: Einige Kollegen, die lange dabei waren, haben im letzten Jahr ihren Arbeitsplatz verloren, mit 12 neuen Teilnehmern – so viele wie lange nicht – wandelt sich auch die Traditions-Veranstaltung.
Semantic Web und gedruckte Lautsprecher
Dem Gremium der Arbeitstagung gelang es erneut, die immer komplexer werdende Wirklichkeit der Verlage abzubilden. Mögen Trend-Tagungen in den Metropolen den größeren Glam-Faktor haben – Irsee ist nah dran am Herstelleralltag. Stichwort "Semantic Web", nach zwei Jahren stand das Dauer-Thema erneut auf der Agenda: Für Manfred Pitz (Expert Systems Deutschland) ist es "die Verbindung mit anderen Inhalten, die Inhalten ihren Wert geben". Anhand innovativer Beispiele wie dem Radiologieportal Thieme RadBase zeigte Pitz, wie intelligente Software, die Anreicherung von Texten mit Synonymen und Verweisen auch neue Geschäftsfelder erschließen kann. Schon jetzt vermarkten große Konzerne wie Elsevier etwa Einheiten "unterhalb von Volltexten" – nano publications oder article particles, aus Texten generierte Fakten. Stichwort Digitaldruck: In Zeiten, da das "Modell Print" im Wortsinn unter Druck steht, will Rüdiger Schmidt (Geschäftsführer Bosch-Druck, Ergolding) mit einer jahrhundertealten Publishing-Doktrin brechen: "Hohe Auflagen bringen keine geringeren Herstellkosten mit sich." Die Ergoldinger sind der weltweit erste Anbieter der Hochleistungs-Digitaldrucklinie inkfinity, die es erlaubt, Print-on-Demand-Konzepte auf einer Vielfalt von Bedruckstoffen wirtschaftlich umzusetzen. Es gehe, so Schmidt, nicht nur um "Digitaldruck als Technik", sondern um neue Geschäftsmodelle – gerade Onliner wie Zalando setzten heute in ihrer Endkunden-Kommunikation auf Personalisierung, Individualisierung – und damit verstärkt auf Print. Ein "Paradigmenwechsel" greift auch aus Sicht von Michael Krebs (Director Commercial Printing bei Canon Deutschland). Während der Konzern im einstigen Kern-Geschäftsfeld Fotografie zweistellige Umsatzeinbrüche zu beklagen hat, wird er auf der in wenigen Wochen beginnenden Fachmesse drupa zu den größten Ausstellern gehören. Heiße Diskussionen würden heute nicht mehr übers Drucken geführt, sondern um die Frage: "Wie bringen wir Inhalte auf Papier?" Dass Hybrid-Anwendungen nach dem Vorbild der sprechenden Zeitung von Hogwarts schon heute Realität sind, demonstrierte Arved Hübler, Professor am Institut für Print- und Medientechnik der TU Chemnitz mit dem T-Book. Die Chemnitzer Forscher statteten einen Bildband zum World Press Photo Award mit gedruckten Lautsprechern aus – so bekommt jedes Siegerfoto ein eigenes Sound-Umfeld. Das neue Kapitel einer Geschichte, in der sich sowohl das E-Book als auch das klassisch gedruckte Buch radikal ändern werden?
Hard copy in a digital age
Ein Highligt der Tagung war der Vortrag von Richard Gray (Printfuture Ltd.), Mitautor der aktuellen drupa "Global Trends"-Marktanalyse – ein 45-Minuten-"Hubschrauberrundflug" über die weltweite Entwicklung im Publishing. Seit Herbst 2013 wird ein internationales Panel von rund 1.100 Druckdienstleistern und 350 Zulieferfirmen jährlich zu wirtschaftlichen Eckdaten und der allgemeinen Entwicklung der Branche befragt. Die gute Botschaft: Die Druckdienstleister schätzen ihre Aussichten für 2016 zunehmend optimistisch ein – und dies trotz immer engerer Margen, fallender Preise und der immer noch nicht gänzlich überwundenen Auswirkungen der Finanzkrise 2008. In unterschiedlichen Weltregionen werden die Wachstums-Chancen freilich sehr disparat eingeschätzt: "Wenn ich Drucker von einem anderen Planeten wäre", so Gray augenzwinkernd, "würde ich nach Afrika oder Asien gehen". Erwartungsgemäß kommt die Studie zu dem Schluss, dass digitale Technologien am schnellsten zulegen (durchschnittlich um 28 Prozent jährlich). Ein beträchtliches Wachstum verzeichnet Bogenoffset – hier vor allem im Verlagswesen (Nettozuwachs von 7 Prozent) und im Verpackungsdruck (plus 12 Prozent). Der Digitaldruck kann seine Vorteile vor allem dann ausspielen, wenn es darum geht, variable Inhalte zu produzieren: 59 Prozent der Funktionsdruckbetriebe und 35 Prozent der Akzidenzdrucker berichten, dass über 25 Prozent ihrer Digitalumsätze auf variable Inhalte entfallen. "Print", so Gray am Ende seiner beeindruckenden Zahlen-Rallye, "ist noch lange nicht tot."
Schöner scheitern
Von Markt-Trends, Säulen- und Tortendiagrammen in die Welt von Typografie und Gestaltung – eine Herausforderung für die vom Institut für Zeitgeschichte herausgegebene kritische Edition "Hitler, Mein Kampf". Drei Jahre benötigten Rudolf Paulus und Dagmar Nathalie Gorbach (Gorbach Gestaltung) von den ersten Überlegungen zu Schrift, Format und Seitenlayout über einen hochgeheim gehaltenen Prototyp (institutsintern, wie in der Automobil-Branche, "Erlkönig" genannt) bis zum fertigen Buch. Innensichten eines hochspannenden Prozesses, der längst nicht abgeschlossen ist – derzeit wird in München an einer webbasierten Ausgabe gearbeitet.
Eine mitreißende Mutmach-Geschichte (und, nebenbei, eine wunderbare Bestätigung für Richard Grays Optimismus) brachte Denise Linke mit nach Irsee: Die junge Frau, bei der Autismus und ADHS diagnostiziert wurde, gründete 2014 über eine Crowdfunding-Kampagne N#MMER, das deutschlandweit einzige Print-Magazin für Autisten und ADHSler. Angst vorm Scheitern hat die "Astronautin" Linke ebenso wenig wie die Kollegen, die sich in Irsee in die Manege der Topps und Flopps werfen und aufzeigen, was beim Drucken, Prägen, Stanzen und Kaschieren unfreiwillig in die Hose gehen kann – auf dass die Herstellungswelt aus "Froschbüchern" mit verspanntem Buchblock und den Kreuz- und Leidenswegen der Globus-Fabrikation lerne. Lernen konnte man am Workshop-Tag, wie man stärkeorientiert führt, Fallstricke des Controllings meistert oder erfolgreich verhandelt. Für den teilnehmenden Reporter, so viel sei verraten, ging das Strategiespiel "Dreierverhandlung" bös’ aus – manchmal ist Drei wohl doch einer zu viel.
Der Leiter, die Leiter?
Spannend auch das traditionelle "Kamingespräch" am Freitagabend, bei dem es heuer – moderiert von Carsten Schwab (Diogenes) und Markus Hartmann (ehemals Hatje Cantz-Programmleiter, heute freier Kurator und Ausstellungsmacher) – um das Geschichtenerzählen mit Bildern in digitalen Zeiten ging. Gäste waren der Fotokünstler Otto Olaf Becker und Robert Goldschmidt, der in der Agentur docmine Text und audiovisuelle Inhalte zu neuartigen "Videobooks" verbindet. Am Ende des Abends, der ein wenig wie eine Live-Reanimierung von Alexander Kluges Mitternachts-Fernsehen wirkte, ahnte man, warum "nichtlineares Erzählen" bislang nicht über verheißungsvolle Anfänge hinausgelangt, das ein oder andere "Enhanced Experiment" über die Wupper gegangen ist: Nicht immer passt die Technik zum Inhalt – und häufig ist auch nicht recht klar, welche Geschichte man überhaupt angehen will. Wie immer stellte das proppenvolle Irsee-Programm mehr produktive Fragen als serienreife Antworten.
Die lustigste Frage stammt von der Oberammergauer Blasmusik-Band Kofelgschroa, die, befeuert vom guten Klosterbräu, ein grandioses Konzert gaben. "Ja, welche Leitern stellen’s denn nun her?" wollten die Jungs, in bester Karl-Valentin-Manier, vom Publikum wissen. Semantik, revisited.
Die Herstellungsleitertagung wählte in Irsee ein neu zusammengesetztes Gremium für 2016/17. Ihm gehören an (Foto, v.l.): Claudia Güner (Thieme), Stefanie Langner-Ruta (S. Fischer), Alexandra Stender (Suhrkamp), Michael Kusche (Reclam), Carsten Schwab (Diogenes), Sylvia Raschke (Hinstorff).
Kontakt & Anmeldungen für 2017: a.staccone@herstellungsleitertagung.de