Interview zum Reprobel-Urteil

"Brüssel muss korrigieren"

19. November 2015
Redaktion Börsenblatt
Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes sollen Verlage nicht länger an den Ausschüttungen von Verwertungsgesellschaften wie der VG Wort beteiligt werden. Matthias Ulmer, Vorsitzender des Verleger-Ausschusses, Jürgen Hogrefe, Vorsitzender des Urheber- und Rechtsausschusses, und Börsenvereinsjustiziar Christian Sprang erklären die Hintergründe.

Warum hat das aktuelle Urteil des Europäischen Gerichtshofs eine solche Brisanz?
Matthias Ulmer: Seit Donnerstag steht die Verfassungs­mäßigkeit sämtlicher Urheberrechtsschranken im deutschen Recht auf dem Prüfstand, weil fraglich geworden ist, ob – und wenn ja, wie – die betroffenen Verlage für diese Nutzungen ihrer Werke weiterhin eine Kompensation erhalten. Wenn Brüssel hier nicht umgehend korrigiert, werden gerade im Bereich Bildung und Wissenschaft Signale gesetzt, die eindeutig gegen unternehmerisches Engagement für hoch­wertige Bildungsangebote sprechen.
Jürgen Hogrefe: Das gilt in Deutschland in ganz besonderer Weise. Gerade dieses Jahr hat ja der Bundesgerichtshof entschieden, dass Bibliotheken ohne Genehmigung von Verlagen deren Bücher einscannen und in Terminals anbieten dürfen. Von dort sollen sich dann Nutzer nach Belieben Inhalte auf ihre USB-Sticks ziehen oder ausdrucken können.
Sprang: In der Zusammenschau könnte man die Situation auf den Satz bringen: »Stell dir vor, du verlegst ein Buch – und der Staat nimmt es dir einfach weg!« Jeder Außenstehende und hoffentlich vor allem jeder Politiker sollte nachvollziehen können, dass hier im Urheberrecht etwas vollständig aus dem Ruder gelaufen ist. Es ist ja nicht so, dass bei der privaten Vervielfältigung oder bei den Wissenschaftsschranken die Manuskripte der Autoren genutzt werden. Was da ohne Genehmigung und jetzt vielleicht auch ohne Zahlung genutzt werden soll, sind Werke, bei denen Verlage Satz, Druck, Lektorat, Marketing, Werbung und Vertrieb auf eigenes Risiko finanziert haben, und die ohne diese Leistungen überhaupt nicht genutzt werden könnten.

Was bedeutet das Urteil für die Beziehung zwischen Verlag und Autor? 
Hogrefe: Wir sollten uns durch die Entscheidung keinen Keil in die Beziehung zu unseren Autoren treiben lassen. Es bleibt dabei, dass Urheber und Verlag in einer symbiotischen Beziehung leben, deren Ziel der Erfolg des gemeinsam auf den Markt gebrachten Werks ist. Das ist seit Jahrhunderten so, und das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Auch die Autorenvertreter in der VG Wort haben von Anfang an gesehen, dass es im Reprobel-Verfahren eigentlich darum geht, dass die internationale Geräteindustrie zu Lasten von Autoren und Verlagen bei den von ihr zu bezahlenden Abgaben sparen möchte.

Und was bedeutet es für die VG Wort und andere Verwertungsgesellschaften?
Ulmer: Alles andere als ein weiterhin gleichberechtigtes Miteinander von Urhebern und Verlagen in den urheberrechtlichen Verwertungsgesellschaften wäre für beide Seiten katastrophal. Unsere Hauptsorge gilt deshalb derzeit der VG Wort. Der Verleger-Ausschuss war sich bei seiner Sitzung am Donnerstag einig, dass alles vermieden werden muss, was die VG Wort nach innen oder außen schwächen könnte. Autoren und Verlage müssen mehr denn je in den Verwertungsgesellschaften zusammenhalten und zusammenarbeiten, um politisch mit gemeinsamer Kraft auf eine unverzügliche Wiederherstellung des seit langen Jahren bewährten rechtlichen Rahmens zu drängen.
Christian Sprang: Natürlich gibt es jetzt im Netz auch Stimmen von Autoren, die sich darüber freuen, dass sie in Zukunft mehr Geld von ihrer Verwertungsgesellschaft bekommen. Ihre eigentliche Schlagkraft erhalten Verwertungsgesellschaften aber nur durch die Gemeinsamkeit von Urhebern und Verlagen. Was würde es den Urhebern nutzen, wenn sie die Ausschüttungen aus den gesetzlichen Vergütungsansprüchen für sich alleine beanspruchen würden? Dann würde es jenseits dieser Rechte keine gemeinsame kollektive Rechtewahrnehmung mehr geben, weil es für die Verlage keinen Grund gäbe, vertraglich erworbene Rechte zur gemeinsamen Wahrnehmung mit den Autoren in eine Verwertungsgesellschaft einzubringen. 

Mit welchen Folgen?
Sprang: Ein Weniger an gemeinsamen Lizenzierungsangeboten von Urhebern und Verlagen würde zu einer sinkenden Attraktivität bei den Werknutzern führen – wir hätten dann also eine Situation, in der es nur Verlierer gäbe. Vor allem aber hätten Autoren und Verlage keine gemeinsame Plattform mehr, mit deren Hilfe sie sich gegen diejenigen Nutzer zur Wehr setzen könnten, die – wie im Reprobel-Verfahren die Geräteindustrie, an anderer Stelle aber auch Unternehmen wie Google oder sogar der Staat selbst – urheberrechtlich geschützte Werke umfassend nutzen wollen, ohne dafür angemessen zu bezahlen. 

Wie konnte es zu diesem Urteil kommen?
Hogrefe: Das ist im Grunde etwas, das wir für undenkbar gehalten haben. Nach dem, was wir alle gelernt haben, liegt in der wichtigsten europäischen Urheberrechtsrichtlinie eine planwidrige Regelungslücke vor, die nach dem Verständnis der Luxemburger Richter nicht richtlinienkonform geschlossen werden kann.

Hat der Gesetzgeber das so gewollt? 
Hogrefe: Der Zustand, den wir jetzt haben, war nie der wahre Wille des Gesetzgebers. Das ist auch in der Politik unumstritten. Die gesamte VG Wort und auch die ent­sprechenden Schrankenregelungen im Urheberrecht sind ja auf dieser seit Jahrzehnten funktionierenden Konstruktion aufgebaut. Diese Konstruktion wird jetzt grundsätzlich infrage gestellt. 

Welche Folgen hat die EuGH-Entscheidung für das Verfahren des Autors Martin Vogel gegen die VG Wort, das beim Bundesgerichtshof liegt? Wie geht es für Verlage hinsichtlich der Ausschüttungen der VG Wort weiter?
Sprang: Voraussichtlich in der ersten Hälfte 2016 wird der Bundesgerichtshof dieses Verfahren nun wieder aufnehmen und – vermutlich nach einer erneuten Anhörung der Parteien – sein Urteil sprechen. Dann erst wissen wir, wie die Ausschüttungspraxis der VG Wort beurteilt wird. Die Karlsruher Richter werden dabei neben der Reprobel-­Entscheidung auch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht zu würdigen haben, nach der Verlagen aufgrund des ihnen zustehenden Eigentumsgrundrechts aus Artikel 14 des Grundgesetzes eine Entschädigung für gesetzliche Beschränkungen des Urheberrechts zukommt. 
 
Also ist jetzt die Politik gefragt? 
Hogrefe: Ja. Wenn die Politik uns nicht sehr schnell signalisiert, dass sie die Regelungslücke in Brüssel korrigieren will und das mit anderen europäischen Regierungen gemeinsam angeht, wären die Verlage gezwungen zu reagieren. Dann könnte all das eintreten, was sich keiner auch nur ausdenken möchte – von einem Zerfall der VG Wort über eine Kündigung bestehender Vergütungsregeln zwischen Verlagen und Urhebern bis hin zu einer Neujustierung der Autorenvergütung in Verlagsverträgen. 

Wie wird der Börsenverein weiter vorgehen? 
Ulmer: Ich bin bereits kommende Woche zu Gesprächen mit der EU-Kommission und wichtigen EU-Parlamentariern in Brüssel. Der Vorsteher hat Brandbriefe an EU-Kommissar Oettinger und Bundesjustizminister Heiko Maas gerichtet. Ende November tagen die Gremien der VG Wort. Wir gehen davon aus, dass Autoren und Verlage dort gemeinsam ein entschiedenes politisches Vorgehen beschließen werden, damit es bei der bisherigen Rechtslage bleiben kann.

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