Wer nicht religiös sei, der könne zumindest mit seinen Wünschen bei den Geiseln, bei den Opfern dieses Krieges sein, so der deutsch-iranische Schriftsteller und Orientalist bei der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche. Denn was seien Gebete anderes als Wünsche, die an Gott gerichtet sind? "Ich glaube an Wünsche und dass sie mit oder ohne Gott in unserer Welt wirken. Ohne Wünsche hätte die Menschheit keinen der Steine auf den anderen gelegt, die sie in Kriegen so leichtfertig zertrümmert."
Die Autoren, Verleger, Buchhändler und Politiker in der Paulskirche (und vielleicht auch die Zuschauer vor den Fernsehbildschirmen) folgten seiner Bitte sichtlich bewegt, wünschten und beteten für den Frieden in der Welt. Und ließen sich am Ende den Applaus für den Preisträger dann doch nicht nehmen.
In der stillen Gedenkminute dürften sie dabei auch an die Kölner Kommunalpolitikerin und OB-Kandidatin Henriette Reker gedacht haben. Sie wollte eigentlich bei der Friedenspreisverleihung dabei sein, wurde aber am Samstag auf dem Kölner Wochenmarkt von einem vermutlich rechtsextremen Attentäter mit dem Messer verletzt - für Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller "auch ein Angriff auf die Werte von uns allen".
In seiner Dankesrede hatte Preisträger Kermani vorher eindringlich an die Staatengemeinschaft appelliert, endlich etwas "gegen den Massenmord vor unserer europäischen Haustür zu tun, den des Islamischen Staates und den des Assad-Regimes." Es sei zwar beglückend zu sehen, wie viele Menschen in Europa und besonders auch in Deutschland sich für Flüchtlinge einsetzen würden. Aber dieser Protest und diese Solidarität seien oft noch zu unpolitisch.
"Nichts ist uns eingefallen, um das Morden zu verhindern"
Kermani vermisst eine breite gesellschaftliche Debatte über die Ursachen des Terrors und der Fluchtbewegung – und über die Rolle, die die eigene Politik dabei spielt. "Nichts ist uns eingefallen, um den Mord zu verhindern, den das syrische Regime seit vier Jahren am eigenen Volk verübt", so der Schriftsteller und Orientalist. "Und ebenso haben wir uns abgefunden mit der Existenz eines neuen, religiösen Faschismus, dessen Staatsgebiet etwa so groß ist wie Großbritannien und von den Grenzen Irans bis fast ans Mittelmeer reicht."
Darf ein Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen? Kermani machte deutlich: "Ich rufe nicht zum Krieg auf. Ich weise lediglich darauf hin, dass es einen Krieg gibt – und dass auch wir, als seine nächsten Nachbarn, uns dazu verhalten müssen, womöglich militärisch, ja, aber vor allem sehr viel entschlossener als bisher diplomatisch und ebenso zivilgesellschaftlich. Denn dieser Krieg kann nicht mehr allein in Syrien und im Irak beendet werden. Er kann nur von den Mächten beendet werden, die hinter den befeindeten Armeen und Milizen stehen, Iran, die Türkei, die Golfstaaten, Russland und auch der Westen."
"Der Islam führt einen Krieg gegen sich selbst"
Seine Rede, in der er sich auch intensiv mit seiner eigenen Religion, dem Islam, und ihrer geschichtlichen Entwicklung auseinandersetzte, widmete der Friedenspreisträger dem katholischen Pater Jacques Mourad, der im Mai eine Geisel des "Islamischen Staates" wurde. Kermani hatte ihn kennengelernt, als er 2012 für eine Reportage durch Syrien reiste. Pater Jacques gehört einer Gemeinschaft an, die sich ganz bewusst der Begegnung mit dem Islam verschrieben hat. Im Krieg nahm er Hunderte von Flüchtlingen in seinem Kloster auf, die meisten davon Muslime.
Es sei ein Trugbild, dass der Islam einen Krieg gegen den Westen führe, so der Friedenspreisträger: "Eher führt der Islam einen Krieg gegen sich selbst, will sagen: wird die Islamische Welt von einer inneren Auseinandersetzung erschüttert, deren Auswirkungen auf die politische und ethnische Kartographie an die Verwerfungen des Ersten Weltkriegs heranreichen dürften. Es gibt keine islamische Kultur mehr, jedenfalls keine von Rang. Was uns jetzt um die Ohren und auf die Köpfe fliegt, sind die Trümmer einer gewaltigen geistigen Implosion."
Für Kermani gehört es zur propagandistischen Logik des "Islamischen Staates", dass er mit seinen Bildern eine immer höhere Stufe des Horrors zünde. "Der IS wird den Horror so lange steigern, bis wir in unserem europäischen Alltag sehen, hören und fühlen, dass dieser Horror nicht von selbst aufhören wird. Paris wird nur der Anfang gewesen sein, und Lyon nicht die letzte Enthauptung bleiben. Und je länger wir warten, desto weniger Möglichkeiten bleiben uns. Anders gesagt, ist es schon viel zu spät."
Gibt es Hoffnung? "Ja, es gibt Hoffnung, es gibt immer Hoffnung", meint Kermani. Wenige Tage vor der Friedenspreisverleihung ist Pater Jacques befreit worden. Und: Es werden Gegenkräfte freigesetzt. "Endlich formiert sich auch innerhalb der islamischen Orthodoxie ein Widerstand gegen die Gewalt im Namen der Religion."
"Europa ist das politisch Wertvollste, was dieser Kontinent je hervorgebracht hat"
Auch das Projekt Europa ist für Kermani ein solches Zeichen der Hoffnung, wenn auch eines, das seit einigen Jahren Geringschätzung, ja sogar Missachtung erfahre. Dabei sei es das politisch Wertvollste, was dieser Kontinent je hervorgebracht habe, ein Modell, beinah eine Utopie: "Wer vergessen hat, warum es Europa braucht, muss in die ausgemergelten, erschöpften, verängstigten Gesichter der Flüchtlinge blicken, die alles hinter sich gelassen, alles aufgegeben, ihr Leben riskiert haben für die Verheißung, die Europa immer noch ist."
Für den Stiftungsrat des Friedenspreises ist Navid Kermani ein Vorbild: "Ein aufgeklärter Bürger, der Hölderlin und die Poesie liebt, der aus der Literatur und aus seiner Religiosität die Anregungen, Erkenntnisse und Kraft schöpft, die wir, angesichts einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, alle brauchen." Das machte Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller in seinem Grußwort in der Paulskirche deutlich. Mit Kermani werde ein Kosmopolit ausgezeichnet, "der glaubwürdig und engagiert für Toleranz, Offenheit und Frieden wirbt."
Kermani mische sich ein, mit einer vorbehaltlosen Menschlichkeit, so auch Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann: "Dafür gebührt Ihnen der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu Recht."
Die Laudatio hielt der Literaturwissenschaftler Norbert Miller, der über Navid Kermanis Bücher und seine "west-östlichen Friedenserkundungen" sprach. "Die Jury hat den Friedenspreis in einem Augenblick, da die Fluchtbewegung das Ausmaß einer Völkerwanderung erreicht hat, an Navid Kermani vergeben", so Miller: "Ich bin stolz und glücklich, dass ich ihm in unser aller Namen als erster gratulieren darf."
Alle Reden der diesjährigen Preisverleihung erscheinen in einer Beilage in der nächsten Börsenblatt-Ausgabe - und demnächst als Buch. Heute ist Kermanis Rede in der "FAZ"nachzulesen, am Dienstag wird sie dann unter http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/online abrufbar sein.
Ein Interview mit dem Friedenspreisträger 2015 finden Sie hier, mehr über den Friedenspreis erfahren Sie hier. Kermani war am Freitag auch auf der Frankfurter Buchmesse zu Gast. Was er bei der Pressekonferenz zu sagen hatte, können Sie hier nachlesen.