Das Ringen um die Frankfurter Buchmesse 2020

Stand oder nicht Stand?

16. Mai 2020
Torsten Casimir

Die Diskussion darüber, ob und gegebenenfalls wie die Frankfurter Buchmesse im Oktober stattfinden kann, tritt in ihre entscheidende Phase. Das Meinungsbild unter Verlagsleuten in Deutschland bleibt uneinheitlich. Die „ergebnisoffene Debatte“, zu der die Frankfurter Allgemeine Zeitung in dieser Woche aufgerufen hatte, wird längst geführt. Ein Stimmungsbild. - Update am 19. Mai mit weiteren Stimmen am Ende dieses Beitrags.

Nicht jeder und nicht jede, die man fragt, möchte zitiert werden. Alle aber kämpfen leidenschaftlich für ihre jeweilige Sicht der Dinge. Einigkeit besteht in einem Punkt: Niemand hält eine Messe als Massenevent in der Form, wie man das weltgrößte Branchentreffen inklusive Publikumstage kennt, für verantwortbar. 

In der Frage, ob sie überhaupt stattfinden oder doch besser abgeblasen werden sollte, sei er „Agnostiker“, sagt der Verbrecher-Verleger Jörg Sundermeier. Er habe allerdings Vertrauen in die Arbeit der Messeleitung und des Börsenvereins und glaube, dass sie schon „das Richtige entscheiden werden, denn sie kennen die Faktoren in ihrer Gesamtheit besser als die ausstellenden Verlage“. Sundermeier hofft auf „zumindest eine abgespeckte Buchmesse“. Denn jeder wisse, „dass eine weitere vollständig abgesagte Buchmesse ein herber Schlag für unsere eh schon geschundene Branche wäre“.

Tim Jung, der Geschäftsführer von Hoffmann und Campe, formuliert es so: „Es liegt auf der Hand, dass in diesem Jahr keine reguläre Messe stattfinden kann. Aber auch mit einem virtuellen Geisterbahnhof ist niemandem gedient.“ Die Messe müsse sich „neu erfinden“. Knapp fünf Monate bliebe für die Neuerfindung ab heute noch Zeit. Ziel muss es Jung zufolge sein, „ein Szenario zu entwickeln, bei dem auch in diesem Oktober Bücher und Autorinnen und Autoren im Rampenlicht stehen“.

Die Verantwortung für die Gesundheit von Ausstellern und Besucher, darin sind sich alle einig, müsse in den Planungen Priorität haben. Ein Buchbranchengipfel als Corona-Virenschleuder – das wäre katastrophal. Dass in Frankfurt im Herbst keine neuen Infektionsherde entstehen dürfen, verstehe sich von selbst, meint etwa Tom Kraushaar, der verlegerische Geschäftsführer von Klett-Cotta. Innerhalb eines gebotenen Rahmens zum Schutz der Gesundheit jedoch „sollten wir unsere Möglichkeiten voll ausschöpfen, die Buchmesse – in welcher Form auch immer – stattfinden zu lassen“, fordert er. Das Frankfurter Treffen sei „von existenzieller Bedeutung für die Buchbranche. Kein Ereignis richtet die Aufmerksamkeit der Menschen in Deutschland und auf der ganzen Welt so auf Bücher und seine Autorinnen und Autoren wie die Frankfurter Buchmesse.“

Kraushaar begründet das nicht allein ökonomisch. „Überlebenswichtig“ nennt er auch die während der Messewoche entstehenden und gepflegten sozialen Beziehungen. Denn die bildeten „den Stoff, der die Mechanik des Marktes und die Organik der Kunst zusammenhält“. Für den Mann von Klett-Cotta wäre es daher „ein Fehler, frühzeitig die Messe aufzugeben, möglicherweise in der Erwartung, an der Stelle auch noch ein paar Euro sparen zu können“. Kraushaar fordert vielmehr die ganze Branche auf, solidarisch und kreativ an „Lösungen für eine andere, aber durchaus festliche und strahlkräftige Buchmesse“ zu arbeiten.

Christian Schumacher-Gebler, CEO der deutschen Bonnier-Gruppe, hat einen etwas anderen Blick auf das Thema. „Ich bin skeptisch, dass es uns gelingen wird, eine Großveranstaltung auf dem Messegelände in gewohnter Form veranstalten zu können. Es wäre fatal, wenn uns das gleiche Schicksal wie in Leipzig ereilt und wir der Möglichkeit beraubt werden, unsere Autoren und deren Themen zu präsentieren.“

Der Chef der nach Umsatz zweitgrößten deutschen Verlagsgruppe wünscht sich in diesem Punkt „eine schnelle und klare Reaktion der Frankfurter Buchmesse, um die Zeit zu nutzen für gute Alternativkonzepte“. Die Frankfurter Buchmesse solle in Kooperation mit allen Branchenkollegen die Kräfte bündeln, um gemeinsam ein hybrides, physisch-digitales Konzept zu entwickeln. „Wir sind meines Erachtens gut beraten, uns in diesem Jahr gedanklich von den klassischen Messeständen zu verabschieden und über Alternativen nachzudenken. Leser werden im Herbst Orientierung suchen und nach einem halben Jahr, in dem viele kulturelle Veranstaltungen ausgefallen sind, offen sein für kreative neue Ideen. Wir sollten die Zeit, die uns dafür noch bleibt, nutzen, um uns mit diesen Ideen zu beschäftigen. Das gäbe uns eine gewisse Sicherheit, kein zweites Leipzig zu riskieren, bei dem uns das Virus in letzter Minute einen Strich durch die Rechnung gezogen hat.“

Die Koordinaten alternativer Idee könnten seiner Meinung nach sein: Lesungen, Diskussionen, Begegnungen, Preisverleihungen, durchaus mit Hotspot in Frankfurt, aber auch dezentrale Bücher- und Autorenbühnen an vielen Orten im Land – „und dann alles per Stream im Internet, im TV, im Hörfunk, in den sozialen Medien. Unsere Botschaft könnte lauten: Die Frankfurter Buchmesse 2020 kommt zu dir nach Hause.“ Jetzt gelte es, dafür Medienpartner zu begeistern. „Man stelle sich vor, wir bekämen, wie aktuell das Corona-Virus, direkt nach der Tagesschau um 20:15 Uhr ein allabendliches ARD-extra zu den täglichen Höhepunkten der Buchmesse.“

Gleichwohl betont Schumacher-Gebler: „Auch ich würde mir eine altbewährte Messe wünschen. Aber wir müssen uns vermutlich, so bedauerlich das ist, von der Vorstellung lösen, dass wir unser Publikum dieses Jahr durch Messehallen wandern sehen." Umso wichtiger sei es, etwas zu kreieren, "das dem Sog der physischen Messe durch ein neues Konzept mit tollen Veranstaltungen in Frankfurt und bundesweite möglichst nahe kommt. Veranstaltungen, die von Lesern besucht werden können, auch dann, wenn sich im Oktober die Rahmenbedingungen spontan ändern. Wir wären vorbereitet, um zu reagieren. All das eingerahmt vom Deutschen Buchpreis und der Verleihung des Friedenspreises.“

Die Gefahr, dass Buchmessen international zunehmend durch digitale Inszenierungen ersetzt werden könnten, sieht der Bonnier-Verantwortliche nicht. „Unsere Branche ist und bleibt ein People Business. Wir leben von der Begegnung miteinander. Wir Verlage präsentieren uns mit Ständen in den Messehallen schon seit vielen Jahren vor allem für das buchbegeisterte Publikum - und um Anlaufstationen für das Treffen von Lesern und Autoren zu haben. Das wird auch in Zukunft unersetzbar sein. Keiner möchte doch auf die unzähligen Leserinnen und Leser verzichten, die sich drei Tage lang begeistert durch die Messehallen treiben lassen.“ Mit Blick auf die weitere Messezukunft meint Schumacher-Gebler: „Wenn wir in diesem Jahr positive Erfahrungen durch die digitale Ergänzung machten, könnte das ein Gewinn für 2021 sein und die Konzepte der Folgejahre bereichern.“

Einen anderen Akzent, der die physischen Anteile einer Buchmesse stärker gewichtet, setzt die Literaturchefin bei Aufbau, Constanze Neumann. „Wir brauchen eine Frankfurter Buchmesse 2020 dringend“, fordert sie. Natürlich müsse die Herbstmesse sich diesmal in vielerlei Hinsicht vom Gewohnten unterscheiden. „Aber die Aufmerksamkeit, die diese Buchmesse bei den Medien und beim Lesepublikum erzeugt, ist von unschätzbarem Wert. Wir brauchen das gerade jetzt ganz besonders.“ Deshalb setze man sich bei der Aufbau-Gruppe dafür ein, dass es möglichst viele Anlässe für eine solche Medienaufmerksamkeit auch in diesem Oktober geben kann. Neben den vielfältigen Veranstaltungsformen auf der Messe selbst halte sie auch eine wirksame Inszenierung der wichtigen, die Messewoche gleichsam einrahmenden Preise – Deutscher Buchpreis, Friedenspreis – für unerlässlich. „Nur so rücken wir das Buch in den Fokus. Nur so schafft es die Literatur in die Tagesthemen. Das darf uns auf keinen Fall wegbrechen!

Update: Wie die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen, glaubt auch der Münchner Verleger Jonathan Beck nicht an eine Herbstmesse, "wie wir sie kennen". Das aber müsse nicht heißen, "dass als Alternative nur die Komplettabsage bleibt". Dem Publikumsverleger macht insbesondere die Vorstellung Sorge, dass mit dem Ausbleiben von Veranstaltungen und attraktiven Preisverleihungen insgesamt die Aufmerksamkeit "für das Medium Buch deutschlandweit" verloren gehen könnte. Er hoffe auf Alternativkonzepte, die das vermeiden helfen.

Keinen Hehl macht Beck aus seiner Enttäuschung über die absehbaren sozialen Verluste, die eine Messeabsage nach sich zöge: "Natürlich finde ich die Vorstellung, alle mir persönlich bekannten Buchfreunde und -förderer dieser Welt nicht in diesem Herbst in Frankfurt anzutreffen, nur schwerlich akzeptabel."

Als "abwartend-ambivalent" beschreibt Sabine Cramer, die verlegerische Geschäftsführerin des DuMont Buchverlags in Köln, ihre Haltung in der Oktoberfrage. Ihre Befürchtung sei es, dass sich in diesem Jahr ohne den attraktiven Kern der Frankfurter Buchmesse - ihre schiere Größe und Internationalität - "das Besondere und Spektakuläre so nicht wird herstellen lassen". Deshalb plädiere sie für Konzepte, "mit denen wir es auf andere Weise schaffen, für das Buch und die Autoren zu werben, am besten zusammen mit möglichst vielen wichtigen Medien". Wie Beck, würde allerdings auch Cramer die persönlichen Begegnungen, die Frankfurt sonst möglich macht, schwer vermissen. "Die sind für uns in der Buchbranche total wichtig."

Mit Spannung warte sie auf die Ideen und Vorschläge Ende Mai, wie vielleicht eine anders ausgerichtete Buchmesse aussehen könnte. "Es ist gut, dass darüber jetzt so viel geredet und nachgedacht wird", sagt die DuMont-Verlegerin. Eine abschließende Entscheidung darüber, ob und gegebenenfalls wie man dieses Jahr in Frankfurt Präsenz zeigen will, sei in ihrem Haus noch nicht gefallen.

Klar sei aber: Kostengründe stünden bei DuMont dabei nicht im Vordergrund. "Wir hatten ein gutes Frühjahr, und wir können uns die Frankfurter Buchmesse leisten." Klar sei jedoch auch: Die Verantwortung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter habe höchstes Gewicht. Mit Blick auf die Pandemie spricht Sabine Cramer also vorsichtiger als mit Blick auf die Ökonomie: "Wir wissen ja so vieles heute noch nicht, etwa, ob und wann es eine zweite Welle geben wird." Und zitiert den sprachlich Versiertesten unter den öffentlich-rechtlichen Virologen, Christian Drosten, mit einem zuletzt oft gehörten Schnack seiner Zunft: "There is no glory in prevention." Diese Wahrheit legt sich nun womöglich auch auf den gewohnten Glanz der weltgrößten Buchmesse.

Ausgemacht ist die Sache mit dem Glanzverlust noch nicht. Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) versicherte am Dienstag dieser Woche der Deutschen Presse-Agentur: "Im Moment kämpfen wir aktiv um die Frankfurter Buchmesse." Man werde alles tun, damit sie stattfinden kann. Feldmann, der als Oberbürgermeister und Vertreter des Mehrheitsgesellschafters den Vorsitz im Aufsichtsrats der Messe Frankfurt innehat, schlägt zusätzliche Flächen vor, die mehr Abstand unter Ausstellern und Besuchern gewähren würden. "Wir haben jetzt die Möglichkeit, Quadratmeter dazuzunehmen", sagte er der dpa. Diese Flächen würden der Buchmesse nicht zusätzlich in Rechnung gestellt. "Damit nehmen wir der Buchmesse ein Stück des Risikos ab."

Jetzt wartet die Buchbranche gespannt auf den 29. Mai, den Tag der Entscheidung in Frankfurt. Wer an der Bedeutung der weltgrößten Buchmesse womöglich Zweifel gehabt hat – selten in der jüngeren Vergangenheit trat sie so klar hervor wie im Corona-Jahr 2020. Wenn etwas bedroht ist, erweist sich oft erst recht sein Wert.