Regina Vogel hat sich eine „Nachrichtensperre“ auferlegt: Statt alle zehn Minuten die „Spiegel“-Schlagzeilen zu verfolgen, liest sie wieder Manuskripte.
Eigentlich sollte die Vertreterin heute bei ihren Münchner Verlagen sein; in einem normalen Jahr wäre jetzt für sie und ihre Kolleginnen die Zeit der Programmkonferenzen. Doch die Welt steht Kopf, und es sieht ganz so aus, als würde das noch eine Weile so bleiben. Also macht sich auch Vogel in ihrer Leipziger Wohnung mit Telefon- und Videokonferenzen zum Teil des großen Digital-Crashkurses, der über die Branche gekommen ist. Eben hat sie mit den Verlegern von Lilienfeld in Düsseldorf geskypt – „rein akustisch, wegen der besseren Konzentration“. Aber wie, bitte, macht man eine Programmkonferenz, wenn keiner weiß, was am nächsten Tag geschieht? „Das ist“, sagt Vogel, „natürlich die Frage, die wir immer wieder von den Verlagen gestellt bekommen: Wie groß sollen die Programme jetzt sein? Sollen wir überhaupt welche machen? Gibt es gedruckte Vorschauen? Was stellen wir in den Vordergrund?“
Vogel vertritt in den neuen Ländern, Berlin und Hessen für das Büro Indiebook rund 40 Verlage von Alexander bis Weidle. Der Trend der Gespräche: Deutlich abgespeckte Herbstprogramme; Bücher, die bislang noch nicht ausgeliefert wurden, werden wohl frühestens im Mai, Juni herausgehen – und sollen ihre mediale Wirkung ja auch noch entfalten. Radikalkuren wie die von Liebeskind-Verleger Jürgen Kill gegenüber der F.A.S. angedachte Notmaßnahme, das Herbstprogramm komplett ins kommende Frühjahr zu schieben, sind derzeit laut Vogel kaum im Instrumentenkoffer. Ihr Rat: „Runterfahren, in Ruhe und kleinen Schritten überlegen, wie man allmählich wieder in so etwas wie Normalität gleiten kann.“ Das sind keine Empfehlungen aus luftiger Warte. Vogel selbst ist betroffen: „Natürlich gibt es Zukunftsängste. Die nächste Zeit wird zeigen, ob und wie wir reisen können. Und wo wir Ende des Jahres stehen.“ Ende Mai würde Vogels Sommerreise beginnen, 190 feste Termine lassen sich nicht per Wimpernschlag verschieben. Dennoch ist Regina Vogel zuversichtlich: „Wenn wir alle miteinander besonnen handeln, kommen wir da durch.“
Andreas Rötzer, Verleger von Matthes & Seitz Berlin, rechnet damit, dass „mindestens ein Drittel des geplanten Jahresumsatzes“ wegbricht; das Herbstprogramm soll auf ein Drittel des Üblichen zusammengestrichen werden. Zahlen, über die sich Mark Lehmstedt momentan fast freuen würde, doch es sieht düsterer aus. Die Meldung, dass Lehmstedt 2020 mit dem Sächsischen Verlagspreis ausgezeichnet wird, ist in diesen turbulenten Tagen nahezu untergegangen; selbst die für den 11. Mai vorgesehene feierliche Verleihung in Leipzig ist offiziell noch nicht abgesagt. Die 10.000 Euro Preisgeld, weiß der Verleger, werden nicht reichen, sein Haus in Corona-Zeiten abzusichern. Auch Lehmstedt hat das Büro im verwaisten Leipziger Stadtzentrum verlassen und versucht in seiner Gohliser Wohnung weiterzuarbeiten, „so normal wie irgend möglich“. Einfach ist das nicht, zumal sich der Verlag in den letzten Jahren mit Stadtreiseführern ein zweites wichtiges Standbein aufgebaut hat. Der durch direkte Onlinebestellungen ausgelöste Tagesumsatz tendiert augenblicklich gegen Null.
Der leidenschaftliche Einsatz vieler Buchhändlerinnen im Land sind ein Tropfen auf den heißen Stein. „Ich habe die komplette letzte Woche damit zugebracht, Liquidität für die nächsten vier Wochen zu sichern.“ Konkret heißt das: Private Reserven anzapfen, geplante Produktionen stoppen oder verschieben, mit Lieferanten über verlängerte Zahlungsziele verhandeln. Auch die Tantiemen-Zahlungen an die Autoren sind eigentlich in diesen Tagen fällig. Am Montag sollten 13 Titel mit insgesamt 100.000 Exemplaren in Druck gehen; der 50.000-Euro-Auftrag ist um vier Wochen verschoben. „Nach maximal vier Wochen“, ist Lehmstedt überzeugt, „muss wieder etwas anlaufen. Anders ist es, auch psychologisch, nicht durchzuhalten.“
Vieles, was man dieser Tage aus den Verlagen hört, wirkt - zwischen Hilfsantrags-Ausfüllen und dem unbedingten Willen, wenigstens im digitalen Raum sichtbar zu bleiben – ein wenig wie Pfeifen im dunklen Wald. Logisch, irgendwie will der Laden ja weiter gerockt werden. Für Töne in Moll bleibt kaum Zeit; umso härter trifft es, wenn sie wirklich ausgesprochen werden. „Hallo Welt, wie geht es euch?“ – so etwa fragte der Kookbooks Verlag via Facebook. „Wir wollen nicht vorgeben, gut sei da noch eine glaubhafte Antwort. Wir sind zermürbt. Auf eine gespenstische Art, weil das Wegbrechen so indirekt trifft, und ebenso auf eine körperliche, weil das Gespenstische direkt in die Körper einzieht.“
Nachtseiten, die Sebastian Wolter schon aus Selbstschutz nicht an sich heranlassen möchte. Er teilt sich in diesen Wochen mit seiner Partnerin die Beschulung der beiden Kinder, sieben und neun Jahre alt. Während einer bei den Hausarbeiten hilft, versucht der andere, im Schlafzimmer zu arbeiten. Lagerkoller? „Wir versuchen, wenigstens einmal am Tag rauszukommen – und wenn’s Federball auf dem Parkplatz gegenüber ist.“ In Indie-Kreisen hat Voland & Quist mit der raschen Verkündung eines „Zweiten Frühlings“ ein Achtungszeichen gesetzt. Co-Verlegerin Karina Fenner hatte während der Vorschau-Arbeit die Idee, „den Frühjahrstiteln eine längere Startrampe“ zu geben. Nora Gomringer, für deren neuen Band es eine hohe dreistellige Zahl Vormerker gab, wird eben ausgeliefert; die Stornoquote ist gering. Im Verlag hofft man, dass die später im Jahr geplanten Bücher von Marc-Uwe Kling und Julius Fischer, bei letzterem auch mit einer größeren Tour verbunden, die Bilanzen weiter aufhellen. Und schraubt – Lebbe geht weiter! – fleißig am Anfang Mai fälligen Creative Europe-Übersetzungs-Förderantrag für das neue Imprint V&Q Books.
„Digital first! Kommt mir bekannt vor.“ Ein wenig sarkastisch kommentiert Zoë Beck die Ankündigung von Suhrkamp, die April-Novitäten zunächst als e-Books herauszubringen. „Paradise City“, ihr eigener, von Suhrkamp für Ende Juni angekündigter Krimi, soll regulär als Print-Ausgabe erscheinen. „Aber dann rollt eben auch die Welle der April- und Mai-Titel. Und ob es die geplante Lesereise gibt, steht in den Sternen.“ Nun ist Beck nicht nur als Autorin von der Corona-Krise betroffen – CulturBooks, 2013 zusammen mit Jan Karsten gegründet, begann als reiner e-Book-Verlag, längst erscheinen die Bücher aber auch gedruckt. Geht man davon aus, dass die gegenwärtige Krise die Digitalisierung ganz sicher beschleunigt, ist bei CulturBooks davon noch nichts zu merken. Noch hält es die literaturaffine Zielgruppe eher mit Papier. „Es gibt keinen signifikanten Run auf e-Books“, sagt Beck, „obwohl die in der Pandemie doch die weitaus sichere Variante wären.“ Die beiden Print-Novitäten des Frühjahrs wurden gut ins Sortiment einverkauft, bestens besprochen, sind aber momentan kaum sichtbar. „Kommen die Bücher nun alle in ein paar Wochen zurück? Was dann?“
Bevor Anne König, Co-Verlegerin bei Spector Books (Leipzig) um zehn im Büro ankommt, hat sie zu Hause schon an zwei künftigen Büchern gearbeitet: Erst transkribiert sie Briefe, die die österreichische Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, Erfinderin der Frankfurter Küche, in den 1930ern aus Stalins Sowjetunion an ihre Schwester geschrieben hat. Dann geht sie ans Lektorat für einen Theorie-Band. „Während ich früher als sonst aufstehe, schlafen unsere Kinder lange aus und entwickeln dank Home-Teaching verblüffender Weise eine neue Lust am Lernen“, lacht König. Im Verlag kümmert sich König auch um die Onlinebestellungen, die über den Webshop eintrudeln. „Manchmal kann ich die Päckchen in die Tasche stecken, manchmal muss ich mit der Sackkarre los.“ Letzteres vor allem, wenn „Das Jahr 1990 freilegen“ geordert wird, das für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war – und schlappe 2,2 Kilo auf die Waage bringt. Die Distribution von Spector Books ist eigentlich international aufgestellt, doch bis auf Japan sind derzeit alle Märkte nahezu dicht. Große Sorgen macht sich König um die Kollegen ihrer amerikanischen Auslieferung Artbook in New York, die sich gerade in Quarantäne begeben haben. Und dennoch: Auch dort gibt es unter #bookstorehero immer noch Buchhandlungen, die fleißig Büchertüten vor die Tür stellen oder frei Bordsteinkante liefern. „Auch an solchen Beispielen“, sagt Anne Könnig, „sieht man, wie ungemein wichtig der Raum der Buchhandlungen, die Versammlung der Bücher und das Gespräch über sie ist. Den Buchhändlerinnen und Buchhändlern müssen alle Instrumente in die Hand gegeben werden, um wieder auf die Beine zu kommen – wenn das hier zu Ende ist.“