Acht Jahre, nachdem die beiden Schwestern Selma Wels und Inci Bürhaniye in Berlin den Verlag binooki gegründet hatten, liefen die Geschäfte zunehmend schlecht. Dem literarischen Programm war das nicht anzulasten. Es brachte wichtige Bücher türkischer Autorinnen und Autoren erstmals in deutscher Sprache (allen voran ist Oğuz Atays epochales Werk "Die Haltlosen" zu nennen), bedeutende Preise wie den europäischen Kairos-Preis 2017 für die verlegerische Arbeit, hohe Aufmerksamkeit und Wertschätzung durch die Feuilletons. Qualität und Rezeption lagen für diesen kleinen Verlag, der sich vorgenommen hatte, in einer "klischeefreien Zone" zu arbeiten, auf erfreulichem Niveau. Dennoch haperte es mehr und mehr mit der Sichtbarkeit im Buchhandel. In der Folge musste die Produktion neuer Titel abgespeckt werden, um noch halbwegs kostendeckend zu arbeiten. Eine klassische Abwärtsspirale, die zeigt, dass Ruhm und Reputation im Kulturbetrieb leider zu den flüchtigen Beständen gehören.
In dieser Zeit reifte bei der Verlegerin Selma Wels und ihrer Schwester der Entschluss, für binooki einen Käufer zu finden. "Ich wollte den Verlag wirtschaftlich stabilisieren und zukunftssicher aufstellen", erklärt Wels im Gespräch mit dem Börsenblatt ihr Ziel. Also versicherte sie sich Mitte 2019 der Vermittlungshilfe eines Unternehmensberaters. Und tatsächlich fand sich, so schien es, im November ein Käufer. Mit dem Kaufinteressenten, erzählt Selma Wels, habe sie sich mehrfach getroffen, "ein älterer Herr, ursprünglich aus Frankfurt, der mit seinem Sohn gemeinsam als Gesellschafter fungieren wollte. Ich sollte für ihn weiterhin als verlegerische Geschäftsführerin von binooki arbeiten, mein Arbeitsvertrag wurde auch direkt vorgelegt."
Technisch sah der Plan vor, aus der ehemaligen GmbH & Co. KG eine reine GmbH zu machen, die Kommanditgesellschaft also aufzulösen, sowie einen stillen Gesellschafter, der von Anfang an dabei war, auszuzahlen. Von der vereinbarten Kaufsumme sollte überdies ein Gründungskredit, der fällig wurde, abgelöst werden. Ein Notartermin fand statt, der Kaufvertrag wurde unterschrieben. Alles schien geregelt, als Zahlungsziel wurde der 10. Januar 2020 vereinbart. Das Datum jedoch verstrich, ohne dass auch nur ein Cent transferiert worden wäre. Mitte des Monats, berichtet Wels, habe dann der Notar nach seinem (vom Käufer zu zahlenden) Honorar gefragt, das ausgeblieben sei. Auch die Banken hätten sich ungeduldig nach dem Stand der Dinge erkundigt.
Der Käufer war unterdessen abgetaucht. Eine von ihm angegebene Berliner Adresse erwies sich als fingiert. Wels stellte Strafanzeige wegen Betrugs – wie sich herausstellte, gegen einen polizeilich bereits aktenkundigen, vorbestraften Mann. Nach ihm werde mittlerweile gefahndet, so Wels.
Die Verlegerin ist doppelt erschüttert. Zum einen ist mit dem Betrugsfall auch ihr Vorhaben geplatzt, den Verlag wirtschaftlich zu sanieren – daher blieb kein anderer Ausweg mehr als der verpflichtende Gang zum Insolvenzrichter. Außerdem musste sie natürlich ihre Bewerbung zum Deutschen Verlagspreis zurückziehen, mit dem sich für sie nicht zuletzt die Hoffnung auf eine finanzielle Entspannung verbunden hatte.
Zum anderen verstört sie das Erlebte auch emotional. "Alles, was dieser Betrüger unternommen hat, zielte für mich – rückblickend betrachtet – einzig und allein darauf, das Weiterbestehen von binooki zu verhindern." Wels grübelt nun über die Absicht, die seinem kriminellen Handeln zugrunde gelegen haben mag. "Für mich ist das ein großes Rätsel, weil ich überhaupt kein betrügerisches Eigeninteresse bei ihm erkennen kann." Da komme man dann auf bedrückende Vermutungen: eine politisch motivierte Tat womöglich? Immerhin steht binooki für ein ambitioniertes gesellschaftspolitisches Programm, für türkisch-deutsche Lesebegegnungen, für das engagierte verlegerische Werk zweier in Deutschland geborener Frauen mit türkischem Familienhintergrund. Man darf hierzulande im Jahr 2020, wenige Wochen nach Hanau, auf den dunklen Gedanken kommen, dass es Menschen gibt, denen solch ein Projekt ein Dorn im Auge ist. "Das hat schon das Zeug zu einem Trauma", sagt Selma Wels.
Die Verlegerin, die mit ihrer Familie erst im Herbst vergangenen Jahres von Berlin nach Frankfurt umgezogen ist, will nun erst einmal das Insolvenzverfahren hinter sich bringen. Aber für die Zeit danach schmiedet sie bereits Pläne. Ihr großes Projekt, sagt sie in festem Ton, werde sie fortsetzen: "kulturelle Vermittlungsarbeit zwischen der Türkei und Deutschland zu leisten, sich im eigenen Land für #vielfaltdurchlesen zu engagieren, die geschlossenen Zirkel der Privilegierten aufzubrechen". Wels weiß, wovon sie da redet. Sie formuliert es so: "Eine Selma Bürhaniye führt ein ganz anderes Leben als eine Selma Wels."
Bücher sind für sie Vielfaltsmedien par excellence. "Literatur ist immer Begegnung. Sie erzeugt Empathie. Und die droht uns in Deutschland gerade massiv verloren zu gehen." Auch deshalb ist für Selma Wels mit dem Ende von binooki nicht das Ende des Verlegens gekommen. "Ich möchte auf jeden Fall weiter Bücher machen."
Bitte gehen Sie nicht gleich vom schlimmsten aus. Ich würde eine ehrliche Kaufabsicht des Herren weiterhin annehmen. Natürlich kann man es nicht wissen, aber könnte es nicht auch sein, dass der Käufer sich einfach übernommen hat? Vielleicht hat er gar nicht so viel Geld wie er glaubte oder er hat sich finanziell überschätzt. Er könnte ein Hochstapler sein, der es einfach toll fand, sich scheinbar einen Verlag zu kaufen oder zu helfen? Dann hat er festgestellt, dass er das Geld gar nicht hat und ist untergetaucht.
Ich wünsche Ihnen alles Gute und Danke für die tolle Arbeit, die Sie geleistet haben.
Wenn ein Gründungskredit plus Übersetzungsförderungen aus der Türkei plus der Kurt-Wolff-Stiftungspreis 2013 mit 5.000,00 € plus in 2017 der KAIROS Preis mit 75.000,00 € plus der Deutsche Verlagspreis 2019 mit 15.000,00 € nicht ausreichen, das der Verlag wirtschaftlich bestehen kann, dann nützt wohl auch ein gutgemeintes Crowdfunding nichts. Denn das sind immerhin über 95.000 € Förderung gewesen. Skuril: Im Januar 2020 hat die Verlegerin Inci Bürhaniye noch über „Solide Unternehmenssteuerung und Insolvenzprävention“ einen Vortrag vor Verlegern in Norderstedt gehalten. Nun alles einem vermeintlichen Betrüger, gar noch politisch motiviert, unterzujubeln, das kommt nicht gut an. Vielleicht sollte man einfach auch mal Verantwortung übernehmen.
Toll recherchiert und gerechnet. Nur leider völlig falsch interpretiert. Rechnen Sie Ihre zusammengesetzte Gesamtsumme doch mal auf 9 Jahre runter. Da werden aus 95.000 € plötzlich sehr viel weniger aufs Jahr gerechnet. Und wenn Sie gründlich recherchiert hätten, dann wäre Ihnen sicher auch aufgefallen, dass es die Übersetzungsförderungen seit 5 Jahren nicht mehr gegeben hat. Ehrlich gesagt, ist es den beiden Verlegerinnen hoch anzurechnen, dass sie überhaupt weiter gemacht haben. Denn einen Titel ohne Fördermittel zu übersetzen, verdoppelt die Produktionskosten im Vergleich zu einem Titel ohne Übersetzung. Kleinverlage tragen am meisten zu der Bibliodiversität zu, aber leben meist gerade so am Existenzminimum. Und wenn dann noch so eine wahrhaft unglaubliche Geschichte dazu kommt, dann ist das das Ende. Ich finde es ganz schön beschämend, hier so eine Milchmädchenrechnung aufzumachen. Solidarität und Unterstützung wäre wohl angebrachter in so einer Situation.