Ist die Übernachtlieferung weiterhin unabdingbar?
Wir können uns durchaus die Frage stellen, ob die Übernachtlieferung wirklich ökologisch und ökonomisch sinnvoll ist. Wir huldigen Greta Thunberg, predigen Fridays for Future, ehren mit dem Friedenspreis Sebastiao Salgado, sollen uns wegen des CO2-Abdrucks veganer ernähren, aber bringen tagtäglich als Branche oft überschaubare Mengen Ware auf die Straße – trotz Bündelung und Großhandelsfunktion. Da ergibt sich eine gewaltige Differenz zwischen Gesinnungsethik und Handlungsweise. Müssen wir den Konsumenten und dem Händler nicht klarmachen, dass nur eine "breit angelegte" Verhaltensänderung dazu beiträgt, achtsam und nachhaltig zu handeln? Die Diskussion sollte sich nicht daran aufhängen, was wir jahrelang hatten und deshalb Gewohnheitsrecht ist. Die Frage muss vielmehr im gesamten Handels- und Konsumentenumfeld heißen: Was passt noch in unser gesellschaftliches und ökonomisches Umfeld und in unsere Wertestruktur?
Wer sollte den ersten Schritt für Veränderungen machen?
Das geht nur gemeinsam. Die Branche hat tradierte Geschäftsabläufe, die tatsächlich langfristig überdacht werden müssen. Es geht nicht um Groß versus Klein oder zum Beispiel Filialismus versus Idealismus, sondern es geht um Wohlstand kombiniert mit Wohlfahrt. Und Wohlfahrt erfordert neues Denken und Handeln. Was wir nicht brauchen, ist ein Betroffenheitsaktionismus. Wir brauchen überlegte, strukturierte Analysen, was wirklich notwendig ist, was goutiert wird, was langfristig Sinn macht: Ausbau sinnvoller Leistungsmerkmale, Abschaffung alter Denk- und Handlungsmuster oder Anpassung überholter an neue Denk- und Handlungsmuster. Denkbar wäre ein CO2-Zuschlag für ökologischen Lieferwahnsinn, auch im global aufgestellten Onlinehandel. Dieser müsste aber vom Verbraucher getragen werden. Damit hätten wir wieder eine Individualisierung und Differenzierung von logistischen Leistungen. Dann könnte man eventuell andere Sendungsformen oder Lieferströme begünstigen oder ausbauen.
Was tun Sie selbst bei Brockhaus für die Umwelt?
Brockhaus als relevanter, aber nicht extrem großer Player bedient seit einiger Zeit bestimmte ökologisch geprägte Unverpacktladengeschäfte unter Verzicht auf Verpackungsmaterial und jegliches Plastik, weil Lieferant und Abnehmer es so wollen. Das ist aber aufwändig, teuer und liegt außerhalb der konventionellen Prozesslogik.
Der Zwischenbuchhandel dreht goldene Locken für Sonderwünsche jeder Art. Ist das nicht zu viel des Guten?
Viele Leistungen und Leistungsmerkmale des Zwischenbuchhandels sind in der Tat oft nicht dem Bedürfnis des Endkunden geschuldet, werden von ihm also nicht entsprechend gefordert und wahrgenommen, sondern sie sind oftmals wettbewerbsgesteuert. Der Wettbewerb zwingt einen geradezu dazu, bestimmte Leistungen zu erbringen. Die Zunahme der Titelmenge im Barsortiment beispielsweise war weniger dem Verbrauchernutzen geschuldet, sondern dem Wettbewerb der Barsortimente. Nach der KNV-Insolvenz besteht nun wieder die Möglichkeit, moderatere Mengengerüste zuzulassen und sich nicht immer nur noch höher nach der Decke zu strecken. Die Frage ist doch, ob etwa die absolute Explosion der Titelmengen seit 1990 verbraucherrelevant und somit umsatzfördernd war. Ich bezweifle das. Das soll nicht ausschließen, dass möglichst viele attraktive Titel aus möglichst zahlreichen Verlagen auffindbar sind, aber es soll irgendwo Klasse vor Masse gehen.
Nicht nur die Barsortimente, auch die Verlagsauslieferungen beklagen, dass es schwierig ist, auskömmlich zu arbeiten. Wie können die Verlagsauslieferungen ihre wirtschaftliche Situation verbessern?
Die Verlagsauslieferungen müssen sich überlegen, ob sie nicht ihre Abrechnungsmodelle überdenken. Während sich das Barsortiment früher bei Verlagsartikeln in großen Stückzahlen bevorratet hat, organisiert heute die Warenwirtschaft streng algorithmisch eine Just-In-Time-Menge. Statt einmal zehn, werden jetzt beispielsweise fünf Mal zwei Exemplare geordert. Der Aufwand in der Verlagsauslieferung stellt sich damit in etwa so dar wie bei der Belieferung einer Buchhandlung. Der Wettbewerb unter den Verlagsauslieferungen in der Vergangenheit nahm grundsätzlich zum Teil ökonomisch unerfreuliche Tendenzen an. Jetzt müssen wir aufpassen, dass dies keine negativen Konsequenzen hat und das ganze Gebilde ins Rutschen gerät.