Lieber Herr Riethmüller, liebe Anwesende alle,
Sie können sich vorstellen, dass ich mich über diese Auszeichnung enorm freue. Und geehrt fühle ich mich auch.
Im vergangenen Jahr habe ich tatsächlich einen sehr viel größeren Teil meiner Zeit mit dem Thema Lesen als mit dem Schreiben von Büchern verbracht. Dabei hatte ich ursprünglich, vollkommen naiv, geglaubt, wenn die Petition mit den Unterschriften der Erstunterzeichner erst einmal veröffentlicht wäre, könnte ich in meinen Alltag zurückkehren. Stattdessen ging es danach erst so richtig los – und dafür bin ich dankbar. Denn durch die unendlich vielen Mails, Gespräche, die Lektüre von Konzepten zu der Frage: "Wie schaffen wir es, dass wirklich jedes Kind in Deutschland lesen kann?" habe ich so viel über das Thema gelernt, dass ich die Hamburger Erklärung (siehe hier und hier) heute ganz sicher noch sehr viel präziser formulieren könnte.
Die Petition fordert, dass in Deutschland kein Kind die Grundschule verlassen darf, ohne sinnentnehmend lesen zu können, und "sinnentnehmend" heißt nicht, wie manche Politiker zu meiner Überraschung vermuten, dass sie in der Lage sein sollten, einen Text zu interpretieren, sondern viel grundlegender: dass sie nicht nur die Buchstaben erkennen und zusammen ziehen können, sondern auch verstehen, was sie da lesen.
"Lektüre von Texten ist wichtig für Meinungsbildungsprozesse"
Daran scheitern nach den Zahlen der IGLU Studie von 2016 18,9% unserer Kinder, also fast ein Fünftel, und was das für die Zukunft bedeutet, ist klar. Sie werden im weiteren Verlauf ihrer schulischen Karriere in praktisch allen Fächern nicht zurechtkommen, kaum einen qualifizierten Beruf erlernen und daher auch nicht in die sozialen Systeme einzahlen können, sondern im Gegenteil Unterstützung aus ihnen entnehmen müssen. Und auch die Folgen für unsere Demokratie könnten gravierend sein: Qualifizierte Meinungsbildungsprozesse verlaufen auch heute weitgehend über die Lektüre von Texten (in welchem Medium auch immer), und wem der Zugang verschlossen ist, der wird auch auf komplexe Fragen eher zu den einfachsten Antworten greifen; und die sind meistens weder richtig noch schön. Außerdem sind Menschen, die seit ihrer Kindheit permanent Misserfolgserfahrungen gemacht haben und sich als Erwachsene an den Rand der Gesellschaft gedrängt fühlen – und das ja tatsächlich sind! − auch stärker in Gefahr, auf populistischen Theorien, Fremdenfeindlichkeit und demokratiefeindliche Parteien hereinzufallen.
Natürlich geht es mir auch um die Konsequenzen für die Betroffenen selbst: Darum, wie schwierig ein Leben ohne Lesen im dritten Jahrtausend notwendig aussehen muss. Aber darüber haben wir alle ja schon seit der ersten PISA Studie 2000 gesprochen, die für die Fünfzehnjährigen ein vergleichbar trauriges Ergebnis wie jetzt IGLU für die Zehnjährigen erbracht hatte − und offenbar mit viel zu schmalem Ergebnis. Daher müssen wir den Blick jetzt endlich auch auf die gesellschaftlichen Folgen lenken, und wenn wir etwas erreichen wollen, das wissen Sie alle, vor allem auf die wirtschaftlichen Aspekte.
"Aber es passiert doch schon eine Menge!", sagen Sie jetzt vielleicht. "Seit PISA ist schließlich eine überwältigende Zahl von (zum größten Teil außerschulischen) Lesefördermaßnahmen entstanden!" – Nur: Warum sind die Zahlen dann trotzdem immer noch so dramatisch?
Wir alle – und gerade mich nehme ich da überhaupt nicht aus! – haben in den vergangenen Jahren viel zu stark das Lesen von Büchern und die Lesemotivation im Fokus gehabt, und dafür gab es ja auch sehr gute Gründe: für Sie als Verleger und Buchhändler wie für mich als Autorin sowieso, aber auch im Zusammenhang mit der Frage, wie Lesekompetenz stabilisiert werden kann. "Wer auch nur einen einzigen Band Harry Potter oder alle drei Bullerbüs gelesen hat", habe ich wieder und wieder in verschiedensten Leseförder-Zusammenhängen gesagt, "wird danach garantiert nie mehr in den funktionalen Analphabetismus zurückfallen. Darum sollen Kinder Bücher lesen!"
Und das ist ohne Frage richtig. Nur: Harry Potter oder Bullerbü können eben nur solche Kinder lesen, die sie beim Lesen auch verstehen. Solange sich mir beim Entziffern der Sätze Buchstabe für Buchstabe ihr Sinn, ihre Bedeutung nicht erschließt, werde ich das spannendste Buch garantiert nicht bis zum Schluss durchbuchstabieren. Bis auf wenige Ausnahmen haben fast alle, die sich seit PISA 1 für die Leseförderung engagieren – auch ich! −, diesen ersten Schritt übersehen: Bevor Kinder Bücher lesen können, müssen sie erst einmal überhaupt lesen können.
Dass wir unser Augenmerk nicht darauf gerichtet haben, ist nachvollziehbar. Die Vermittlung der Lesekompetenz im engeren Sinn ist nicht unsere, sie ist Aufgabe der Schule, Aufgabe des Staates, die ihm auch niemand abnehmen kann und sollte.
Aber wenn wir wollen, dass Menschen weiterhin Bücher lesen, müssen wir uns zunächst die Frage stellen, was denn passieren muss, damit sie dazu in der Lage sind. Was können wir alle, was können Sie als Buchhändler und was kann der Börsenverein tun, damit wirklich jedes Kind lesen lernt?
Viele Buchhandlungen sind ja bereits intensiv im Bereich Leseförderung engagiert, indem sie Lesungen, Leserallyes, Lesetage für Kitas und Schulen organisieren, dazu Infoveranstaltungen für Lehrer, und die Schulen zur Teilnahme am Vorlesewettbewerb oder am bundesweiten Vorlesetag motivieren. Aus Erfahrung weiß ich, dass Buchhandlungen oft die kreativsten, witzigsten Ideen haben, um die Lesemotivation von Kindern zu steigern. Nur: Das Lesen selbst können sie den Kindern dann eben doch nicht beibringen.
"Wir müssen und stärker einmischen"
Aber wir müssen uns stärker einmischen als bisher. Gemeinsam können wir alle zur Lobby für das Lesen werden und den zuständigen Entscheidungsträgern die Relevanz, aber auch die Komplexität dieses Themas vermitteln. Politiker ertrinken in der Fülle ihrer verschiedenen Aufgaben und daher, das wissen Sie wie ich, besteht auf allen Ebenen der Politik die Neigung, sich immer zunächst dem Thema zuzuwenden, das am dringlichsten scheint. Und das ist häufig dasjenige, für das es den größten Druck aus der Bevölkerung, die größte Präsenz in den Medien und der Öffentlichkeit generell gibt. Da rangiert das leise, im Vergleich altmodisch scheinende Thema Lesen nun leider auf einem der ganz hinteren Plätzte.
Zudem fehlen uns auch die Lobbyisten in den Parlamenten. Die Automobilindustrie kann im Dieselskandal den Verlust einer gigantischen Zahl von Arbeitsplätzen an die Wand malen, wenn es zu ihrem Niedergang käme; tausende Arbeitslose drohen beim schnelleren Ausstieg aus der Braunkohle; und der Bauernverband vermittelt, dass ohne Glyphosat mit dem Ende einer erschütternden Zahl bäuerlicher Betriebe zu rechnen ist.
Derartige Drohkulissen können wir nicht aufbauen. Denn kurzfristige Folgen hat die Tatsache, dass ein Fünftel der Zehnjährigen in Deutschland nicht lesen kann, ja wirklich nicht. Aber mittel- und langfristig sind auch bei diesem Thema die wirtschaftlichen Konsequenzen für das Land gravierend. Jeder Cent, den wir heute am Lesen sparen, wird uns später einen Euro kosten.
Denn Lesen ist das Nadelöhr in die Gesellschaft, Lesen bleibt auch heute die Grundlage für alles Weitere. Wenn ich sehe, welche Themen zurzeit in Politik und Medien aufgeregt diskutiert werden – und zumeist ja auch durchaus zu Recht! −, dann kommt es mir ein wenig so vor, als wollten wir ein Haus bauen: Wir denken intensiv an die Umwelt und setzen Solarkollektoren aufs Dach; installieren eine Regenwasser-Rückgewinnungsanlage, dreifach verglaste Fenster, eine Erdwärmepumpe und nutzen die neuesten Möglichkeiten zur Wärmeisolierung. Wir benutzen ausschließlich umweltfreundliche Baustoffe. Wir beauftragen einen Architekten, der ein Gebäude entwirft, das darüber hinaus auch unter ästhetischen Gesichtspunkten beglückend und eine Freude für seine Umgebung ist. Kurz: Wir bauen das in jeder Hinsicht großartigste Haus von allen. Nur das Fundament haben wir leider vergessen, das langweilige, das erschien uns so selbstverständlich und wir mussten ja so viel anderes bedenken.
"Wir brauchen dringend ein breites Bündnis"
Wie wichtig also auch immer Themen wie etwa KI oder Digitalisierung sind: Damit auch das Fundament bei den Entscheidungsträgern wieder in den Blick gerät, müssen wir die Lobbyarbeit für das Lesen endlich selbst in die Hand nehmen, und das zügig. Mit jedem Jahr, das ungenutzt verstreicht, gehen uns wieder einige zigtausend Kinder verloren. Darum brauchen wir dringend ein breites Bündnis, und das nicht nur zwischen Börsenverein, PEN, Schriftstellerverband und Stiftung Lesen – obwohl das schon mal ein wunderbarer Anfang sein könnte. Trotzdem bliebe Lesen dann aber immer noch ein Nischenthema und den Druck, der notwendig wäre, um etwas zu ändern, könnte ein solches Bündnis kaum entfalten. Wäre es darum nicht sinnvoll, auch andere betroffene Akteure einzubeziehen wie etwa den Bundesverband der Kinderärzte, die seit Jahren einen Rückgang der Sprachfähigkeit bei Kindern beklagen, Wirtschaftsverbände, die unter dem Mangel an qualifizierten Auszubildenden leiden, Gewerkschaften, Kirchen – bestimmt fallen Ihnen noch sehr viel mehr ein. Da Lesen das Nadelöhr in die Gesellschaft ist, sind schließlich alle Bereiche der Gesellschaft betroffen. Und aus all diesen Bereichen sollte Unterstützung eingefordert werden.
Und was wäre dann das konkrete Ziel eines solchen Bündnisses? Es reicht ja nicht aus, an die Kultusministerkonferenz, die Bundesbildungsministerin oder den Bundestag heranzutreten mit der Forderung, sie sollten gefälligst schnellstmöglich dafür sorgen, dass endlich alle Kinder lesen können, indem sie z.B. einen nationalen Leseplan auflegen. Was genau könnte der Inhalt eines solchen Plans sein? Welches Gremium wäre wofür konkret zuständig, wer würde was finanzieren? Das Problem bei unserem Thema ist ja zum einen der Föderalismus: Bildung ist Ländersache; aber darüber hinaus liegen die Zuständigkeiten für die verschiedenen notwendigen Maßnahmen auch noch bei unterschiedlichen Ministerien. Wenn wir in der Kita anfangen und dafür Erzieherinnen und Erzieher qualifizieren wollen – der Börsenverein hat ja z.B. das Projekt Buchkindergärten (siehe hier) gestartet − dann fällt das in die Zuständigkeit der Sozialministerien; gehen wir in der Entwicklung der Kinder noch einen Schritt zurück und sagen: Zunächst mal muss es uns auch um die Eltern gehen!, dann wäre das Familienministerium zuständig. Und für die Schule natürlich das jeweilige Kultus- oder Bildungsministerium.
"Warum nicht einen Lesepakt auflegen?"
Es gibt durchaus schon Überlegungen, die der Komplexität des Problems Rechnung tragen. Warum nicht ähnlich wie beim Digitalpakt einen Lesepakt auflegen, bei dem der Bund Mittel zur Verfügung stellt, auf die die Bundesländer dann nach Absprache möglicher Maßnahmen zugreifen können. So wären die Probleme, die sich aus dem Föderalismus ergeben, umgangen. In einzelnen Bundesländern – und im Ausland sowieso! − sehen wir schon, dass ein dichtes Netz an Maßnahmen von der Geburt bis zum Ende der Sekundarstufe 1 deutliche Erfolge bringen kann. Warum also solche Ansätze nicht übernehmen, und das bundesweit?
Ich hätte hier sehr viel lieber über all das geredet, woran wir alle eigentlich immer zuerst denken, wenn wir vom Lesen sprechen. Über das Lesen von Büchern. Über das Glück und die Hilfe und den Trost, die Bücher für den Leser bedeuten können. Aber solange dieses Glück, diese Hilfe und dieser Trost nur für höchstens vier Fünftel der Menschen in Deutschland überhaupt zugänglich sind, gibt es noch Aufgaben zu lösen. Ich wünsche mir, dass wir ein Land der Leser werden. Und dazu müssen wir jetzt zunächst zu einem Land werden, in dem alle lesen können.