Das Internet und die digitalen Technologien lehren uns vor allem ein: Auf nichts ist Verlass, Computersysteme können jeden Moment abstürzen – und die Gewissheiten des analogen, bürgerlichen Zeitalters gehören der Vergangenheit an.
Ging Vorsteher Heinrich Riethmüller in seiner Eröffnung zunächst auf den Hacker-Gau ein, der die Osiandersche lahmlegte, vergegenwärtigte er noch einmal den KNV-Schock vom 14. Februar, so gingen die beiden Referenten des Vormittags auf die fundamentalen Veränderungen ein, die Sprache und Schrift, Lesen und Textverständnis im Internetzeitalter erleben.
Digitale Renaissance der SchriftHenning Lobin, Sprachwissenschaftler, Computerlinguist und Direktor des Instituts für deutsche Sprache (IdS) in Mannheim, überraschte mit der These, dass wir derzeit eine "digitale Renaissance" der Schrift erleben. Um dies zu untermauern, unternahm er auf der Bühne im Ellington einen Ritt durch die Geschichte: von ersten Bildzeichen der Maya über die Ideogramme des Chinesischen bis zur ersten Alphabetschrift des Urkanaanäischen, die bis heute für unsere Sprache maßgeblich ist.
Um 1150, so der empirische Befund, habe die Schrift die Fläche entdeckt, Verzierungen, Bildeinrückungen, Kommentare und Glossen verwandelten die Seite in eine Art Superzeichen. Mit Gutenbergs Letterndruck sei diese Entwicklung umgekehrt worden: Textseiten wurden vereinfacht, in Spalten gesetzt, von Bildern befreit.
Erst mit dem Internet und der Möglichkeit der Online-Publikation sei die Flächigkeit wieder zurückgekehrt, so Lobin. Webseiten kombinieren auf vielfältigste Weise Texte, Bilder, Grafiken und Videos.
Auch die Verwendung der Sprache verändert sich: Die Diversität an Sprachen, Jargons und Zeichensystemen nimmt zu; grammatische Regeln verlieren an Bindekraft und behaupten eher eine statistische Wahrscheinlichkeit; reine Sprachlichkeit geht über in multimodale Zeichenverwendung auf der Fläche; die Vorstellung der Sprache als rationaler Konstruktion wird abgelöst vom Konzept eines sprachlich-kommunikativen Netzes.
Sprache sei nicht mehr der Park, in dem der Kies geharkt wird, sondern ein Feuchtbiotop mit größtmöglicher Artenvielfalt, ein Ökosystem, das man nur bedingt beeinflussen könne.
Es wird mehr gelesen – nur woandersDie (Bio-)Diversität, die Lobin für Sprache und Schrift behauptet, ist für Gerhard Lauer, Professor für Digital Humanities in Basel, auch im Bereich von Lesen und Schreiben zu beobachten. Die Behauptung, es werde weniger gelesen, konnte Lauer mit vielen Beispielen und empirischen Befunden widerlegen. Was sich geändert hat, sind die Leseumgebungen, in denen sich nicht nur jüngere Menschen heute bewegen. Gelesen werden Bücher aller Art, gleich ob gedruckt oder als E-Book – ohne dass dies einen prinzipiellen Unterschied bedeuten würde. Kongress-Moderator Torsten Casimir (Chefredakteur des Börsenblatts) hatte bereits in der Anmoderation davon abgeraten, sich mit "falschen Dichotomien" aufzuhalten.
Die Abgesänge des Feuilletons auf die Literatur und das Schreiben seien falsch, so Lauer, und man könne sie anhand der Befunde von Lese-Communities im Netz widerlegen. Natürlich habe sich auf Plattformen wie Wattpad oder in Blogs eine Literatur herausgebildet, die man teilweise als schlicht oder als "Kalenderlyrik" bezeichnen könne. Aber interessant sei, dass eine große Zahl der Nutzer in der Lektüre immer wieder zu den Klassikern zurückkehrt, etwa zu Jane Austens "Pride and Prejudice" oder Emily Brontës "Wuthering Heights". Erstaunlich sei, in welchem Umfang solche Texte im Internet kommentiert würden. Da entstehe ein kommentierendes Netzwerk, das miteinander interagiert und eine eigene Welt der Literaturbetrachtung schafft.
Und das dürfe man nicht geringschätzen, so Lauer. Wer zum Beispiel auf Goodreads Goethes Farbenlehre, durchaus keine leichte Kost, lese und mit den Worten kommentiere "My favorite chapter is brown", der müsse schon sehr tief in Goethes Theorie eingedrungen sein.
Was man beobachten könne, sei eine "Popindustrialisierung der Kultur". Wenige Highlights zögen Leser wie ein Kamin an ("Kamineffekt"). Soziales, immersives Lesen nimmt zu und gruppiert sich um Netzstars wie den Youtuber Jonathan Green, der Meister des überlieferten Lesekanons wie Günter Grass abgelöst hat. Der Netzbetrieb, so Lauer, tritt an die Stelle des Literaturbetriebs. "Zuerst kommt das Internet, und darin befinden sich viele Lesewelten, auch unsere tradierte Buchwelt."
Fazit: Das Internet ermöglicht eine Fülle von Schreib- und Lesewelten, die parallel koexistieren, die aber auch in einer Wechselbeziehung zueinander stehen. Ein Multiversum der Sprache, in der die Gutenberg-Galaxis nur einer von vielen Sternhaufen ist.
So geht es weiter
Am Nachmittag folgt ein Vortrag des führenden Neuromarketing-Experten Hans-Georg Häusel, der einen "Blick ins Lesergehirn" wirft und fragt, "was der Buchhandel von der Hirnforschung lernen kann". Lena Falkenhagen spricht anschließend über die "Rolle von Autorinnen und Autoren in einer digitalisierten Gesellschaft". Die Schriftstellerin Thea Dorn spricht danach "Von Worten und Wahrheiten" und fragt: "Welche Macht haben Journalisten und Autoren, eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft zu gestalten?"