Studie "Buchkäufer - Quo vadis?"

Jetzt sind Ideen gefragt

12. Juni 2018
Redaktion Börsenblatt
Auf den Buchtagen in Berlin wurde heute die inzwischen abgeschlossene Buchkäufer-Studie des Börsenvereins vorgestellt. Neben einer gründlichen Analyse für die Massenabwanderung im Buchmarkt liefert sie kreative Ideen für die Rückgewinnung von Käufern. Doch von der Idee zur Strategie ist es noch ein weiter Weg.            

Präsentiert wurden die Ergebnisse von Jana Lippmann, Leiterin der Marktforschung des Börsenvereins, sowie von Christoph Freier und Judith Ebe, GfK.

Die Herausforderung
Wie kann es gelingen, Millionen von Käufern, die dem Buchmarkt in den vergangenen Jahren den Rücken gekehrt haben, wieder zurückzugewinnen? Ist dies möglich, auch wenn das Buch im öffentlichen Diskurs an Bedeutung verloren hat? Ist dies möglich, obwohl das Buch von vielen Konsumenten nur noch als eine Option neben vielen anderen Medienangeboten wahrgenommen wird?

Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, sieht angesichts der Ergebnisse der aktuellen Buchstudie ("Buchkäufer – Quo vadis?") die Riesenchance, Menschen wieder näher ans Buch zu bringen. Denn eines wäre bei den Kunden unübersehbar: ihr klares Plädoyer für das Buch als "Sehnsuchtsort", als Medium der Inspiration und Entschleunigung. Doch damit steht die eigentliche Aufgabe erst bevor, so Skipis: "Wir sind noch nicht nah genug am Kunden." Es gelte, gemeinsam mit der Branche eine Strategie zu entwickeln, die mehr Kundennähe mit mehr Orientierung verbindet. "Wir müssen Buchsuchen erfinden, die beispielsweise Lesestoff nach emotionalen Kriterien auswählen", so Skipis. Oder Apps, die Mitteilungen senden, Lese- und Hörproben zur Verfügung stellen und so an das Buch erinnern. "Die Ergebnisse liegen uns jetzt vor, und wir können jetzt gemeinsam damit beginnen, unsere Kunden wieder zurückzuholen", so Skipis.

"Aufbruchstimmung"
Das "diffuse Unwohlsein", dass sich bei vielen Verlagen im vergangenen Jahr angesichts plötzlicher Absatzeinbrüche eingestellt habe, weiche jetzt einer "Aufbruchstimmung", so Skipis. Es gibt Verlage und Buchhandlungen, die bereits an neuen Konzepten arbeiten oder diese bereits umgesetzt haben:

  • Beispiel Heymann in Hamburg: Der Regionalfilialist stattet seine Buchhandlungen derzeit mit einem modernen Ladendesign aus und entwickelt neue, crossmediale Services wie den "Buchfinder". Über ihn können sich Kunden, die nicht in den Laden kommen können, online beraten lassen. Heymann stellt den Interessenten dann unverbindlich und kostenlos Lesevorschläge zur Verfügung.
  • Beispiel Bastei Lübbe: Klaus Kluge, Programm- und Marketingvorstand des Kölner Verlagshauses, glaubt an die Macht der Inszenierung. Ein Unternehmen wie Globetrotter zeige, wie man Produkte inszenieren könne. Es sei die Bereitschaft nötig, etwas Singuläres anzubieten und Bücher zielgruppengerechter auszustatten. Der Handel müsse seinerseits für mehr Attraktivität, Emotionalität und Orientierung sorgen. Die Kunden suchten den "Touchpoint zum Buch". (Mehr Ideen aus der Branche in Börsenblatt 23/2018.)

Ursachenanalyse
Um Ansätze für eine neue Produkt- und Kundenstrategie zu entwickeln, ist eine genaue Analyse der Ursachen für die Abwanderung von zentraler Bedeutung. Erst wenn man die Verhaltensmuster der Kunden und ihre Bedürfnisse kennt, kann man mit geeigneten Mitteln darauf reagieren. Ein erster Befund der Studie war schon im Januar, dass die tägliche Internetnutzung der Altersgruppen, die die höchste Abwanderungsquote aufweisen (die 20– bis 49-Jährigen), 2017 gegenüber dem Vorjahr erheblich zugelegt hatte: bei den 30– bis 49-Jährigen auf 183 Minuten (plus 35), bei den 14–29-Jährigen auf 274 Minuten (plus 29). Jugendliche und junge Erwachsene verbringen also im Schnitt mehr als viereinhalb Stunden täglich im Netz. Beliebteste Aktivitäten sind die mediale Internet-Nutzung (inklusive Streamingdienste und Videoplattformen), Online-Kommunikation und Onlinespiele.

Wie die Nutzer selbst die Folgen der zunehmenden Internet-Nutzung spüren, wurde in den Fokusgruppen-Gesprächen deutlich, zu denen die GfK in Leipzig und Frankfurt eingeladen hatte. Die Teilnehmer beklagen darin "Stress", weil sie "always on" seien, sie fühlen sich "zugeballert", weil sie etwa "77 SMS in einer Stunde" erhalten, sie müssen "für alle erreichbar" sein und empfinden dies als "Verpflichtung". Paare, die früher vor dem Einschlafen Bücher gelesen haben, sitzen jetzt vor ihren Laptops und gehen zwischendurch ans Smartphone. Gleichzeitig liegen auf dem Nachttisch "sechs Bücher mit ein bisschen Staub drauf".

Online-Stress
Mehrere Faktoren sind es, die bei den Fokusgruppen-Teilnehmern – und mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur bei ihnen – ein verändertes Verhalten induzieren:

  • Zeitknappheit: Das wachsende Angebot an Freizeitaktivitäten und Medienformaten lässt das Zeitbudget der Nutzer schrumpfen.
  • Aufmerksamkeitsdefizit: Die Flut an Information und Inhalten auf vielen Kanälen verringert die Fähigkeit, sich auf eine Sache zu fokussieren.
  • Teufelskreis »digitale Medien«: Sie erzeugen ein Gefühl der Abhängigkeit, des Sich-nicht-losreißen-Könnens.
  • Wertewandel: Die Digitalisierung fördert die Produktivität, fordert aber zugleich das Multitasking – was wiederum die Konzentration auf eine Sache, etwa einen Roman, erschwert. Soziale Beziehungen und Aktivitäten erfahren im Gegenzug eine Aufwertung.

Einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Leseverhalten dürfte auch die veränderte Arbeitswelt ausüben. Berufstätitige, die auch in ihrer Freizeit ständig erreichbar sind, fühlen sich innerlich wegen der permanenten Bereitschaft unter Druck. Es fehlt die Energie zum Lesen.

Im Ergebnis kommt es zu einem schleichenden Rückgang des Bücherlesens. Es werden deutlich weniger Bücher pro Jahr gelesen, die Lesemomente werden seltener – und Bücher werden geradezu "vergessen". Hinzu kommt, dass Bücherlesen nicht mehr als Ausweis für Intellektualität wahrgenommen wird. Das seltenere Lesen, so Jana Lippmann, Leiterin der Marktforschung des Börsenvereins, werde aber von den Nutzern meist nur unterschwellig wahrgenommen.

Die Stellung von Büchern übernehmen immer häufiger Serien auf Streamingportalen, die gegenüber dem Buch Vorteile zu bieten scheinen:

  • Convenience: Das Anschauen von Serien erfordert keine größere geistige Anstrengung; Serien sind kurz und lassen sich in den persönlichen Zeitplan »einschieben«; außerdem kann man nebenbei anderes erledigen
  • Gruppenerlebnis: Serien eignen sich zur gemeinsamen Entspannung; man kann sich über die Storys austauschen
  • Verfügbarkeit: es gibt ein breites Angebot und attraktive Flatrate-Modelle (Netflix, Amazon Prime)
  • Zugehörigkeit: Serien sind gesellschaftsfähig geworden, man spricht in der Gruppe / Clique darüber; wenn man mitguckt, gehört man dazu.


"Koma-Glotzen"
Der Serienkonsum hat auch Suchtpotenzial: Das sogenannte "Binge-Watching" – eine komplette Staffel wird in einem Stück gesehen – ist inzwischen so populär geworden, dass man (wie Jana Lippmann) schon von "Komaglotzen" spricht.

Der Verlust des Buches wird von den Teilnehmern bedauert.  Lesen wird mit "Kuscheln", "Zeit vergessen", "Entspannung", "Gedankenabenteuer", "Weltentrückung" assoziiert; dass er nicht mehr liest, kommt einem Teilnehmer so vor, "als hätte man einen Teil von sich aufgegeben". Lesen wird als persönliche Zeit, als "Ich-Zeit" verstanden – ist aber dennoch nur noch eine Option unter vielen.

Statusverlust
Unübersehbar ist der Statusverlust des Buches in einer Gesellschaft, deren literarische Prägung der Dominanz audiovisueller Medien weicht. Bücher sind nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil des öffentlichen Diskurses und des persönlichen Umfelds. Nichtlesen ist kein Stigma mehr. Nicht zufällig erlebt, parallel zum Streaming-Boom, das Hörbuch eine neue Blüte, die sich vor allem in hohen Downloadraten manifestiert.

Alexander Skipis stimmt nachdenklich, dass die Fähigkeit, längere, komplexe Sinnzusammenhänge lesend zu erschließen, abnimmt, und Inhalte immer kurzfristiger und nur noch häppchenweise konsumiert werden. "Wollen wir uns eine Gesellschaft leisten, in der nur noch wenige Eliten lesen und die Geschicke der Menschen steuern?"

Die Schwelle, Bücher aktiv zu suchen und sich auf sie einzulassen, hat sich in den vergangenen Jahren spürbar gehoben. Leser fühlen sich vom großen Titelangebot überfordert und suchen Orientierung.

Ideensammlung
Wie soll es nun weitergehen? Gibt es probate Mittel, Nicht-Leser oder verunsicherte Leser wieder in das Buch-Ökosystem zurückzuholen? Erste Überlegungen dazu lassen sich aus den Gesprächen mit den Befragten ableiten, und konkrete Ideen wurden in einem Co-Creation-Workshop mit Buchmarkt-Abwanderern und Branchenvertretern geäußert. Sie machen deutlich, wie viele Ansatzpunkte nötig sind, um wieder in Kontakt mit dem Buch zu kommen. Und umgekehrt: um das Buch an den potenziellen Leser zu bringen.

Damit Buchinteressenten wieder zu aktiven Käufern werden, müssen ihre Bedürfnisse rund um den Kauf besser adressiert werden. Zunächst gilt es, an das "vergessene" Buch zu erinnern, wieder Lust aufs Lesen zumachen (Impuls). Das bedeutet konkret etwa:

  • Mehr Aufmerksamkeit schaffen durch Medienpräsenz auf allen Kanälen (wie bei Serien)
  • Personalisierte Werbung mit Empfehlungscharakter, z. B. auf Social Media oder in Zeitschriften
  • Buchempfehlungen in Medien

In einem zweiten Schritt geht es darum, Käufern Orientierung und Inspiration in der Buchhandlung bzw. über die Webseite zu bieten. Sie wünschen sich z. B.

  • Personalisierte Empfehlungen in der Buchhandlung / im Newsletter,
  • Ein Bestsellerregal für jede Kategorie in der Buchhandlung,
  • Einen Ideen- und Beratungsterminal, der auch Rezensionen bietet,
  • Ein Regal mit Buchempfehlungen der Mitarbeiter,
  • Durch gedruckte und elektronische Leseproben sowie durch Buchtrailer, die auch online bereitgestellt werden können,
  • Durch elektronische Services wie Verfügbarkeitsabfragen
  • Durch eine App, die hilft, das passende Buch zu finden (Buchfinder-App)

Den Kauf selbst (dritte Phase) verbinden die Workshop-Teilnehmer mit einem ansprechenden Ambiente und Verwöhn-Elementen, die den Kauf in der Buchhandlung zu einem Genusserlebnis machen sollen. Die Buchhandlung soll sich als der Ort der Entschleunigung präsentieren, mit dem die Käufer das Lesen von Büchern ja assoziieren:

  • Leseinseln laden zum Schmökern ein
  • Tee- oder Kaffeebars „verlängern“ den Buchkauf
  • Besondere Plätze (z.B. Dachterrasse) werten die Buchhandlung zum Erlebnisraum auf
  • Gratiszugaben vermitteln das Gefühl eines attraktiven Mehrwerts
  • Lesungen und Events in der Buchhandlung können das Gefühl vermitteln, dass Lesen ein gemeinschaftliches Erlebnis ist (Leser können sich austauschen)


Von der Ideensammlung bis zur Strategie ist es noch ein weiter Weg. Zwei Perspektiven zeichnen sich aber schon ab: Der physische "Touchpoint" Buchhandlung braucht eine (emotionale) Anziehungskraft, die Abwanderer motiviert zurückzukommen, und zugleich aktive Käufer davon überzeugt, dem Buch die Stange zu halten. Und der virtuelle "Touchpoint" Smartphone muss mit Apps bespielt werden, die neugierig auf das Lesen und auf neue Buchinhalte machen. Wenn es zumindest ansatzweise gelingt, dass Lesen wieder als "cool" empfunden wird, dann wäre schon viel gewonnen.

Die Studie

Die vollständige Studie können Mitgliedsunternehmen über die Website des Börsenvereins beziehen:
http://www.boersenverein.de/quovadis


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