Als der Vorsitzende Richter des I. Zivilsenats am Bundesgerichtshof, Wolfgang Büscher, die Urteilsformel verlas, war mit einem Mal die Hoffnung, das Verfahren könne noch einen Umweg über den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg nehmen, zerstoben. Karlsruhe ist die vorläufige Endstation im Streit zwischen dem Autor Martin Vogel und der VG Wort, der die Verwertungsgesellschaft und die Verlage über viereinhalb Jahre in Atem gehalten hatte. Indem das Gericht die Revision der VG Wort zurückwies (und mit ihr die Anschlussrevision des Klägers), erklärte es die Praxis der Verwertungsgesellschaft, »einen pauschalen Betrag in Höhe von grundsätzlich der Hälfte ihrer Einnahmen an Verlage auszuschütten«, für unrechtmäßig. Die entsprechenden Bestimmungen der VG-Wort-Satzung seien weder mit dem deutschen Urheberrecht noch mit den einschlägigen Regelungen der Europäischen Union vereinbar. Damit sei die jahrelang geübte Praxis der VG Wort, Verleger an den Ausschüttungen zu beteiligen, hinfällig, so der Vorsitzende Richter Büscher.
Eine Verwertungsgesellschaft habe die Einnahmen aus der Wahrnehmung der ihr anvertrauten Rechte und Ansprüche ausschließlich an die Inhaber dieser Rechte und Ansprüche auszukehren, hieß es in der anschließend verschickten Pressemitteilung des Gerichts. Den Verlegern stünden aber, so die Begründung, keine eigenen Rechte oder Ansprüche nach dem Urheberrechtsgesetz zu, die von der VG Wort wahrgenommen werden könnten. »Verleger sind – von den im Streitfall nicht in Rede stehenden Presseverlegern abgesehen – nicht Inhaber eines Leistungsschutzrechts. Die gesetzlichen Vergütungsansprüche für die Nutzung verlegter Werke stehen kraft Gesetzes originär den Urhebern zu.« Wie das Gericht seine Entscheidung im Einzelnen herleitet und welche Rechtsfolgen es für die VG Wort und Verlage hat, wird sich erst beurteilen lassen, wenn die vollständige Urteilsbegründung vorliegt. Dies war bis Redaktionsschluss noch nicht der Fall. Von einer genauen Prüfung der Gründe will auch der Verlag C. H. Beck abhängig machen, ob er gegen das Urteil Verfassungsbeschwerde einlegen wird. Der Verlag war dem Verfahren als sogenannter Streithelfer der VG Wort beigetreten. Zum Ausgang selbst wollen sich C. H. Beck und die VG Wort erst nach Vorlage der Urteilsgründe äußern.
Schlag gegen die Verlagskultur
Der Börsenverein wertete das Karlsruher Verdikt als »schweren Schlag für die einzigartige deutsche Verlagskultur«. Das Urteil sei »kulturpolitisch höchst problematisch«. Es beende das seit Jahrzehnten bestehende fruchtbare Miteinander von Urhebern und Verlagen in den urheberrechtlichen Verwertungsgesellschaften. »Wir brauchen umgehend eine gesetzliche Korrektur der Entscheidungen von BGH und Europäischem Gerichtshof«, so Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins in einer ersten Stellungnahme. Andernfalls drohe die Insolvenz etlicher kleiner und mittlerer Verlage (siehe Interview).
Wie unmittelbar die Gefahr ist, zeigt ein erster Überschlag der Forderungen, die auf Verlage zukommen: Die Höhe der Rückforderungen beträgt zwischen 20 und 200 Prozent des durchschnittlichen Jahresgewinns – für viele Verlage zu viel, um eine Überschuldung und damit die Insolvenz abzuwenden. Nicht jeder Verlag war in der komfortablen Lage, entsprechende Rückstellungen in der Bilanz einzustellen und damit das Schlimmste zu verhüten. »Natürlich haben wir diese Gelder, die wir als unseren gerechten Anteil dafür betrachten, was wir in die Werke an Leistung stecken, längst in neue Bücher investiert«, sagt Christoph Links, dessen Verlag mit dem diesjährigen Kurt Wolff Preis ausgezeichnet worden ist.
Dem I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs waren die ernsten Sorgen der Verlage nicht verborgen geblieben: Zahlreiche kleinere und mittelständische Verlage hätten in Veröffentlichungen und in Briefen an das Gericht vor den möglicherweise existenzgefährdenden Folgen einer ablehnenden Entscheidung gewarnt, so der Vorsitzende Richter Büscher nach der Urteilsverkündung. Dies habe das Gericht aber nicht interessieren dürfen, da es »ausschließlich um die Prüfung der Rechtslage« gegangen sei. Er gab aber zu bedenken, »ob sich die Urheber einen Gefallen tun, wenn sie sich auf diese Weise von den Verlagen trennen«. Den Verlagen stehe es frei, den Gesetzgeber zu bewegen, ihnen ein eigenständiges Leistungsschutzrecht zu verschaffen.
Der Kläger Martin Vogel sieht sich durch das Urteil des Bundesgerichtshofs in seiner Rechtsauffassung bestätigt. Er sei erleichtert, sehe aber keinen Anlass zum »Jubilieren«, teilt er auf Anfrage des Börsenblatts mit. Den Vorwurf des Börsenvereins, das Urteil versetze der einzigartigen deutschen Verlagskultur einen schweren Schlag, weist er zurück: »Wenn nun beklagt wird, das BGH-Urteil zerstöre eine lange bewährte Verlagskultur, so ist dies ein wenig überzeugender und durchsichtiger Einwand. Denn die beschworene Kultur beruht darauf, dass die Verleger mit Unterstützung der VG Wort und den in ihren Gremien mit einem Vetorecht ausgestatteten verlegerischen Berufsgruppen eine Verteilung aufrechterhalten, die rechtlich unzulässig ist und die Urheber um bis zur Hälfte ihrer gesetzlich verbrieften Vergütung bringt. Rechtswidrige Statuten haben bekanntlich keine Bestandsberechtigung.«
Juristische und finanzielle Abhilfe
Für die VG Wort und die Verlage ist nun entscheidend, wie es in den kommenden Wochen weitergeht und ob kurzfristig sowohl juristisch als auch finanziell Abhilfe geschaffen werden kann. Kulturstaatsministerin Monika Grütters will, sobald die Urteilsbegründung vorliegt, ausloten, welche »Handlungsspielräume auf nationaler und europäischer Ebene überhaupt bestehen«. Für ein Vergütungsverfahren, das Verlegern und Autoren die gemeinsame Rechtewahrnehmung garantiert, hatte sich Grütters bereits im Februar gemeinsam mit Bundesjustizminister Heiko Maas in einem Brief an EU-Kommissar Günther Oettinger ausgesprochen. Ob kurzfristig auf nationaler Ebene eine Übergangslösung geschaffen werden kann, ist derzeit noch offen. Ebenso die Frage, ob ein unter anderem vom BGH ins Spiel gebrachtes Leistungsschutzrecht für Verlage der richtige Weg wäre – oder das (abgeleitete) Urheberrecht an der schöpferischen Leistung, die der Verlag zur Publikation eines Werks erbringt.
Den von erheblichen Rückforderungen betroffenen Verlagen will der Börsenverein möglichst rasch helfen. Derzeit prüfe man »Möglichkeiten, einen Darlehensfonds einzurichten, der von der Insolvenz bedrohten Verlagen Überbrückungshilfe leisten könnte«, sagte Alexander Skipis (siehe Interview). Es bleibt also zu hoffen, dass Erste-Hilfe-Maßnahmen die schlimmsten Folgen abwenden und das Ausmaß des eintretenden Schadens begrenzen können. Zudem zeichnet sich ab, dass weit mehr Verlage als bisher bekannt via Wahrnehmungsvertrag mit Autoren Rechte in die VG Wort eingebracht haben, sodass sie vom Vorwurf einer unberechtigten Vergütung ausgenommen wären.
Kurze Chronik des Verfahrens
Dezember 2011 Martin Vogel reicht Klage gegen die VG Wort ein, weil er die Beteiligung der Verlage an gesetzlichen Vergütungsansprüchen für unrechtmäßig hält.
Mai 2012 / Oktober 2013 Das Landgericht München und in zweiter Instanz das OLG München bestätigen die Auffassung des Klägers; die VG Wort geht in Revision beim Bundesgerichtshof (BGH).
Dezember 2014 Der BGH unterbricht das Verfahren, um die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Sache Hewlett Packard / Reprobel abzuwarten.
März 2015 Die VG Wort setzt die Ausschüttungen an Verlage aus.
12. November 2015 Das Urteil des EuGH sieht Verlage nicht als Rechteinhaber im Sinne der europäischen Urheberrechtsrichtlinie.
10. März 2016 Der BGH verhandelt die Revision der VG Wort.
21. April 2016 Der BGH erklärt die pauschale Beteiligung von Verlegern an Ausschüttungen der VG Wort für rechtswidrig.
Interview mit Börsenvereins-Geschäftsführer Alexander Skipis
Der Kläger Martin Vogel zum VG-Wort-Urteil