Eine Unionsrichtlinie aus dem Jahr 2006, die u. a. das Recht zum Vermieten und Verleihen von Büchern betrifft, sieht laut Pressemiteteilung von Curia Europa vor, dass das ausschließliche Recht, dieses Vermieten und Verleihen zu erlauben oder zu verbieten, dem Urheber des Werks zusteht.
Aber: EU-Länder können Ausnahmen von diesem ausschließlichen Recht machen, unter der Voraussetzung, dass zumindest die Urheber eine angemessene Vergütung erhalten.
Streit in den Niederlanden
In den Niederlanden fällt das Verleihen von E-Books durch öffentliche Bibliotheken nicht unter diese Regelung. Die Vereniging Openbare Bibliotheken (VOB) – ein Verband, in dem alle öffentlichen Bibliotheken in den Niederlanden zusammengeschlossen sind – ist jedoch der Ansicht, dass diese Regelung auch für das Verleihen von E-Books gelten müsse. Vor diesem Hintergrund erhob sie gegen die Stichting Leenrecht – eine Stiftung, die mit der Erhebung der Urhebervergütung betraut ist – Klage, um ein dahin gehendes Feststellungsurteil zu erreichen. Die Klage der VOB betrifft das nach dem "One-copy-one-user"-Modell organisierte Verleihen: Das der Bibliothek zur Verfügung stehende E-Book wird vom Nutzer für die Verleihdauer heruntergeladen und ist für andere Bibliotheksnutzer während der gesamten Verleihdauer nicht verfügbar. Nach Ablauf dieses Zeitraums entfällt für den betreffenden Nutzer automatisch die Möglichkeit, das Buch zu nutzen, und dieses kann dann von einem anderen Nutzer ausgeliehen werden.
Die mit dem Rechtsstreit befasste Rechtbank Den Haag (erstinstanzliches Gericht Den Haag, Niederlande) ist der Ansicht, dass die Entscheidung über die Anträge der VOB von der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften abhänge und hat dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
In seinen heutigen Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Maciej Szpunar die Auffassung, dass die zeitlich begrenzte öffentliche Zurverfügungstellung von E-Books durch öffentliche Bibliotheken unter die Richtlinie zum Vermietrecht und Verleihrecht fällt. Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof nicht bindend.
Seiner Ansicht nach hat der Unionsgesetzgeber das Verleihen von E-Books nicht unter den in der Richtlinie verwendeten Begriff des "Verleihens" gefasst, weil die kommerziell verwertbare E-Book-Technologie zu jener Zeit erst am Anfang stand. Er schlägt daher eine "dynamische" oder "evolutive" Auslegung der Richtlinie vor und führt insoweit u. a. aus, dass das Verleihen von E-Books ein Äquivalent zum Verleihen von Büchern in Papierform ist. Nur mit einer solchen Auslegung kann seiner Auffassung nach in Anbetracht der rasanten technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung die Wirksamkeit der in Rede stehenden Regelung gewährleistet werden.
"Urheberrecht soll Urheber schützen" − Bibliotheksleihe cui bono?
Der Generalanwalt weist außerdem darauf hin, dass der Hauptzweck des Urheberrechts darin besteht, die Interessen der Urheber zu schützen. Tatsächlich, so der Generalanwalt, verleihen Bibliotheken derzeit aber Bücher in digitaler Form aufgrund von zwischen den Bibliotheken und den Verlagen geschlossenen Verträgen, was hauptsächlich den Verlagen oder anderen Zwischenhändlern im E-Book-Bereich zugutekommt, ohne dass die Urheber eine angemessene Vergütung erhalten. Nähme man hingegen an, dass das digitale Verleihen unter die Richtlinie fällt, erhielten die Urheber aus diesem Grund eine angemessene Vergütung, die zur Vergütung aus dem Verkauf der Bücher hinzukäme und von den mit den Verlagen geschlossenen Verträgen unabhängig wäre.
Des Weiteren gelangt er zu der Schlussfolgerung, dass eine Auslegung des Begriffs des Verleihens, die das Verleihen von E-Books einschließt, weder dem Zweck noch dem Wortlaut der Richtlinie zuwiderläuft. Im Übrigen, so der Generalanwalt weiter, ist eine solche Auslegung weder mit den verschiedenen urheberrechtlichen Bestimmungen des Unionsrechts noch mit den internationalen Verpflichtungen der Europäischen Union in irgendeiner Weise unvereinbar oder in Widerspruch.
Schließlich führt der Generalanwalt aus, dass die Mitgliedstaaten mit der Einführung der Ausnahme für das öffentliche Verleihen von E-Books verlangen können, dass diese Bücher der Öffentlichkeit zuvor durch den Rechteinhaber oder mit dessen Zustimmung zur Verfügung gestellt werden und dass sie aus legalen Quellen stammen. Hingegen hat der Mechanismus der Erschöpfung des Verbreitungsrechts seiner Ansicht nach nichts mit dem Verleihrecht zu tun.