Seit vergangener Woche ist das Lehrbuch in Deutschland tot. Das muss man zumindest konstatieren, wenn die Gerichte dem Treiben der Bibliotheken unter Leitung des Deutschen Bibliotheksverbands keinen Einhalt gebieten. In der Unibibliothek Darmstadt sind die wichtigsten 100 Lehrbücher eingescannt und werden den Studenten kostenlos zum Download angeboten. Das ist kein Versehen, das ist erklärter Wille der Bibliothekare: alle Bücher für alle Studenten umsonst zum Download. So fördert man Wissenschaft und Lehre in Deutschland.
Die Universitätsbibliothek der TU Darmstadt, gleichzeitig auch die Landesbibliothek des Landes Hessen, gibt auf Nachfrage überraschend offen Auskunft: Man halte sich bei diesem Vorgehen genau an die Empfehlungen des Deutschen Bibliotheksverbands. Und Professor Harald Müller vom Max-Planck-Institut in Heidelberg, Mitglied der Rechtskommission des Deutschen Bibliotheksverbands, verdeutlicht es mir gegenüber noch einmal: »Es geht darum, den gesamten Bestand digital in den Räumen der Bibliothek zugänglich zu machen. Ihr Lehrbuch ist ein Titel von Millionen.« Das – so ist er überzeugt – ist der Auftrag des Gesetzgebers, der Wille des deutschen Volkes.
Die kurzfristige Hoffnung, wenigstens der Download auf USB-Stick sei ein Versehen, erlosch am Montag, als die TU Darmstadt verlauten ließ, man werde das so weiterführen, bis man gerichtlich gestoppt werde. Die Bibliothek als Download-Station, die Landesbibliothek als Copyshop des Landes Hessen.
Der Buchhändler vor den Toren der Uni geht vor seinen Auslagen auf und ab und wundert sich. Nach der Vorlesung strömen die Studenten nicht zu ihm, um die Literatur für das Semester zu kaufen, sie strömen mit gezücktem USB-Stick in die Bibliothek.
Man kann es den Studenten nicht verdenken: Die freudig eingesammelten digitalen Lehrbücher wandern vom Stick auf den Computer, von dort auf die Tauschplattformen im Netz. Endlich mal plagt sie dabei kein schlechtes Gewissen: Wenn das Land Hessen und die Uni die Dateien offen verteilen, dann kann es nicht illegal sein, diese auch auf Tauschplattformen zu stellen. Die Verbreitung der Lehrbücher ist so schnell von einer Uni zur nächsten sichergestellt.
Auch dem Verleger wird Monat für Monat über die einbrechenden Absatzzahlen klar, dass für die betroffenen Lehrbücher eine Neuauflage wohl nicht mehr geplant werden muss. Auch die Realisierung der Novitäten erscheint vor diesem Hintergrund wenig sinnvoll: Kaum ist ein Buch erschienen, wird es von der Bibliothek zum Download angeboten. Die verbliebenen Absatzzahlen reichen für die Finanzierung der Auflage nicht mehr aus.
Das Vorgehen ist skandalös und offensichtlich gesetzeswidrig. Aber – ganz nach dem Muster von Google – wenn man schnell Fakten schafft, dann kann man vielleicht das Gesetz beugen. Und so wird vielleicht das angestrengte Musterverfahren nach vielen Monaten den Verlagen recht geben; die Bibliotheksbestände sind aber zwischenzeitlich alle eingescannt und haben sich auf kraftvollen Flügeln in die Welt auf und davon gemacht.
Die letzten Auflagen der Lehrbücher stehen derweil in den Regalen und laufen auf den Servern heiß. Sie bewahren für alle Zeit den Stand der Lehre vom Frühjahr 2009, dem Frühjahr, in dem die öffentlichen Bibliotheken dem Lehrbuch den Garaus gemacht haben.
Mit dem »Heidelberger Appell« haben zuletzt Hunderte Schriftsteller und Verleger zum Schutz des Urheberrechts aufgerufen (www.textkritik.de). Der Bibliotheksverband scheint davon unbeeindruckt. Was ist zu tun?