Und dahinter das Meer
Laura Spence-Ash über die Initialzündung für ihr literarisches Debüt, das auf der Shortlist für das Lieblingsbuch der Unabhängigen 2024 steht
Laura Spence-Ash über die Initialzündung für ihr literarisches Debüt, das auf der Shortlist für das Lieblingsbuch der Unabhängigen 2024 steht
Im Herbst 1998 las ich in der New York Times einen Artikel über eine Gruppe von sieben erwachsenen Engländern, die in die Staaten kamen, um sich den Ort noch einmal anzusehen, an dem sie während des Zweiten Weltkriegs gelebt hatten. »Die englischen Kinder«, wie sie damals genannt worden waren, hatten zusammen in einer eleganten Villa in Tuxedo Park, New York, gewohnt, in der insgesamt achtzehn Evakuierte untergebracht waren. Die Einwohner von Tuxedo Park hatten alle mitgeholfen, sie zu versorgen. Die erwachsenen Rückkehrer, 1998 in ihren Sechzigern, schlenderten umher und tauschten Erinnerungen an die Zeit aus, die sie dort verbracht hatten, in ihrem fernen zweiten Zuhause.
Ich schnitt den Artikel aus, und er ließ mich nicht mehr los. Natürlich hatte ich gewusst, dass im September 1939, kurz bevor England Deutschland den Krieg erklärte, viele Mütter und Kinder aus London und anderen Großstädten in Sicherheit gebracht wurden. Innerhalb weniger Tage wurden mehr als anderthalb Millionen Menschen evakuiert. Auch in der Literatur war mir das schon begegnet, denn die Kinder aus den Chroniken von Narnia von C. S. Lewis waren genau solche Kinder, die man aus London aufs Land geschickt hatte.
Die gefürchteten Bombardierungen blieben jedoch aus, und bis Anfang 1940 wurden viele Kinder nach Hause zurückgeholt, oft gegen den Rat der Regierung. Aber im Sommer desselben Jahres wuchs die Bedrohung wieder, und obwohl die Evakuierung freiwillig war, verließen erneut viele Kinder die Städte, bevor im September die Luftangriffe begannen.
Was ich nicht gewusst hatte, war, dass auch Kinder ins Ausland geschickt worden waren, sowohl über öffentliche wie über private Initiativen, und zwar nicht nur in Länder des Commonwealth wie Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika, sondern auch in die Vereinigten Staaten. Man riet Königin Elizabeth, zusammen mit ihren Töchtern, Prinzessin Elizabeth und Prinzessin Margaret, ebenfalls das Land zu verlassen, doch sie bestand darauf, dass die königliche Familie während des Krieges in England blieb. Schätzungen zufolge wurden etwa vierzehntausend Kinder nach Nordamerika geschickt. Aber diese Initiativen waren nicht von langer Dauer. Im September 1940 wurde die SS City of Benares von einem U-Boot torpediert und versenkt; einundachtzig der einhundert Kinder an Bord starben. Unmittelbar danach wurden sämtliche Evakuierungen ins Ausland eingestellt.
Die Geschichte aus der Times beschäftigte mich jahrelang. Die Vorstellung von Kindern, die um die Welt reisen, war mir nicht neu: Meine beiden Kinder sind adoptiert, und auch sie hatten einen Ozean überquert, um zu uns zu kommen, obwohl sie damals noch sehr klein waren. Als ich den Artikel zum ersten Mal las, waren sie eins und fünf. Ich dachte darüber nach, wie es wohl für die evakuierten Kinder zu Kriegszeiten gewesen sein mochte, aber ich dachte auch an die Eltern – diejenigen, die die unmögliche Entscheidung getroffen hatten, ihre Kinder fortzuschicken, und diejenigen, die ihr Haus und ihr Herz Fremden geöffnet hatten.
Ich fand noch mehr Geschichten und plötzlich begann eine Geschichte Gestalt anzunehmen. Ich sah die ruhige Kleinstadt vor mir, den Friedhof direkt gegenüber der Schule. Ich wusste, wie still es dort sein konnte, wenn es kräftig geschneit hatte. Ich konnte den blühenden Flieder im Frühling riechen. Das Gebäude, in dem ich gewohnt hatte, war früher der riesige Wohnsitz einer reichen Familie gewesen, und ich stellte mir eine kleinere Ausgabe davon vor, mit einem Holz- tisch in der gemütlichen Küche, einem eleganten Wohnzimmer mit blau-weißem Geschirr in den Eckschränken und Glastüren, die auf den Garten hinausgingen. Aus der Atmosphäre dieses Ortes heraus entstanden die Figuren, die jetzt das Buch bevölkern: Nancy Gregory, die in der Küche werkelt; Ethan Gregory, der in seinem kleinen Arbeitszimmer sitzt und Algebra-Tests korrigiert; ihre Söhne William und Gerald, die mit ihrem Hund King über die breite, geschwungene Treppe toben.
Meine vorangegangenen Recherchen halfen mir, auch die englische Familie lebendig werden zu lassen: Millie Thompson, die mit zwei vollen Einkaufstaschen eine schmale Stiege hinaufsteigt; Reginald Thompson, der die Kerzenstummel anzündet, als es dunkel wird; und schließlich ihre Tochter Beatrix, die allein über den Ozean reist, an einem heißen Augusttag in Boston die Fähre verlässt und am Kai auf die Familie wartet, die sie eines Tages als die ihre ansehen wird.
(Übersetzung: Claudia Feldmann)
Der Roman Und dahinter das Meer ist am 2. August im mareverlag erschienen.
Ich bin schlichtweg begeistert von diesem Roman
Silke Jahns, Buchhandlung Erdmann in Reinbek
Wunderbare Lesestunden, intelligente Unterhaltung – was will man mehr!
Frank Menden, stories! in Hamburg
Ich konnte es nicht mehr aus der Hand legen.
Michaela Hahn, Buchhandlung Diekmann in Aschaffenburg
Empathie und wundervolle Charaktere – eine unvergessliche Geschichte.
Erika Dietrich-Kämpf, Buchhandlung Dorn in Bad Windsheim
Mein Lieblingsbuch in diesem Jahr.
Petra Breer, Nova Buch in Meppen
Ich bin beeindruckt von dieser ungewöhnlichen Familiengeschichte.
Brigitte Schiffer, Buchhandlung Balke in Berlin
Und dahinter das Meer
Laura Spence-Ash
25,00 € (DE)
ISBN 978-3-86648-702-4
368 Seiten
mareverlag