"Ljubljana Lesemanifest"

Zentrale Bedeutung des Lesens auf höherem Niveau

19. Oktober 2023
Redaktion Börsenblatt

Kürzlich wurde das "Ljubljana Lesemanifest" veröffentlicht, das eindringlich auf die Bedeutung fortgeschrittener Lesekompetenzen und -praktiken hinweist. Das komplette Manifest im Wortlaut lesen Sie hier in deutscher Übersetzung.

Die Bedeutung des Lesens auf hohem Niveau: Ein Manifest

Unterstützt von der International Publishers Association

Lesen auf hohem Niveau ist unser stärkstes Werkzeug für analytisches und kritisches Denken. Es trainiert Metakognition und kognitive Geduld, erweitert unsere konzeptionellen Fähigkeiten, schult kognitives Einfühlungsvermögen und Perspektivenübernahme – soziale Fähigkeiten, die für informierte Bürger in einer demokratischen Gesellschaft unerlässlich sind. Die Unterzeichner dieses Manifests rufen dazu auf, die dauerhafte Bedeutung des Lesens auf hohem Niveau im digitalen Zeitalter anzuerkennen.

Eine der dringlichsten Herausforderungen, denen sich die Gesellschaft heute gegenübersieht, ist die Frage, wie man die Tendenz der abnehmenden Lesekompetenz umkehren kann. Um als informierte Bürger an einer demokratischen Gesellschaft teilzuhaben, brauchen wir höhere Lesefähigkeiten und -praktiken, die weit über das bloße Entschlüsseln von Texten hinausgehen. Lesen ist nicht nur der wichtigste Weg zur persönlichen Entwicklung, die Grundlage für lebenslanges Lernen und die Basis für einen Großteil unseres Informationsaustauschs. unseres Informationsaustauschs, sondern ist auch eine zentrale Dimension der sozialen Interaktion und Teilhabe.

Die Ära der sich rasch ausbreitenden Bildschirmtechnologien hat uns enorme Mengen an Audio-, Bild- und Textinhalten beschert, visuelle und textliche Inhalte zu unseren Fingerspitzen gebracht. Die digitale Revolution hat viele positive Ergebnisse gebracht. So sind beispielsweise Textinhalte in benachteiligten Gebieten leichter zugänglich geworden und es kann besser auf die Bedürfnisse von Lesern mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Fähigkeiten eingegangen werden. Wir müssen jedoch darauf achten, dass bestimmte Fähigkeiten und Formen des Lesens nicht wie ein Relikt aus einer schnell verblassenden älteren Informationsära erscheinen. Dies gilt vor allem für das Buch in seiner langen Form und das Lesen auf höherem Niveau, das es fördert. Die digitale Welt mag das Lesen mehr fördern als je zuvor in der Geschichte, aber sie bietet auch viele Verlockungen, oberflächlich und zerstreut zu lesen – oder sogar überhaupt nicht zu lesen. Dies gefährdet zunehmend das Lesen auf hohem Niveau.

Wir fordern daher, dass die Rolle des Lesens auf höherem Niveau im digitalen Zeitalter neu überdacht wird. In einer immer komplexer werdenden Informationsumfeld muss der informierte Bürger in der Lage sein, valide von nicht validen Quellen zu unterscheiden und sein Leseverhalten flexibel an unterschiedliche Kontexte anzupassen. Das Lesen auf höherem Niveau ist eine Übung in Aufmerksamkeit und kognitiver Geduld, erweitert den Wortschatz und die konzeptionellen Fähigkeiten und fordert die vorgefassten Meinungen der Leser aktiv heraus. Es ist sind es vor allem lange Texte, wie z. B. Bücher, die unsere höheren Lesefähigkeiten schärfen. Sie trainieren uns darin, unterschiedliche Interpretationen zu prüfen, Widersprüche, Vorurteile und logische Fehler zu erkennen und komplexe und fragile Verbindungen zwischen Texten und kulturellen Hintergründen herzustellen, die wir die wir für den Austausch von menschlichen Urteilen und Gefühlen benötigen.

Das Lesen auf höherem Niveau ist unser stärkstes Werkzeug für analytisches und strategisches Denken. Ohne sie sind wir schlecht gerüstet, um populistischen Vereinfachungen, Verschwörungstheorien und Desinformationen entgegenzutreten, und wir werden dadurch anfällig für Manipulation. Allerdings konzentrieren sich Pädagogen zunehmend auf multimodale Medien, was zu Lasten einer eingehenden Beschäftigung mit Textinformationen geht. Außerdem wird die Komplexität des Lesens aufgrund des Strebens nach Effizienz als ein Problem betrachtet, das durch Vereinfachung gelöst werden muss, und nicht als Spiegel der menschlichen Komplexität und als eine Tätigkeit, die analytisches und strategisches Denken fördert. Schließlich liegt der Schwerpunkt der heutigen Leseerziehung und -bewertung auch auf den grundlegenden funktionalen und informatorischen Fähigkeiten. Dabei wird die lebenslange Bedeutung des Lesens auf höherem Niveau für das kritische Denken aus den Augen verloren, das eine Voraussetzung für eine gut funktionierende Demokratie ist.

Wir fordern daher, die Bedeutung des Lesens auf höherem Niveau als eine lebens- und gesellschaftsprägende Fähigkeit anzuerkennen, und zwar durch Bildung und Leseförderung sowie durch die Leseforschung. Die Leseerziehung und -förderung muss über die Vermittlung grundlegender funktionaler und informativer Fähigkeiten an Schulkinder hinausgehen und sich auf den lebenslangen persönlichen Entwicklungsprozess konzentrieren, der durch Lesen auf höherem Niveau gefördert wird. Die Bewertung des Lesens muss über standardisierte Tests hinausgehen und qualitative und deskriptive Daten einbeziehen, um eine detaillierte Diagnose des Zustands des Lesens auf höherem Niveau in unserer Gesellschaft zu erstellen. Die Leseforschung muss ihren Fokus erweitern und Disziplinen wie die Informationsverhaltensforschung, die Vermittlung von Informationskompetenz, die Mediengestaltung, die Aufmerksamkeitsforschung und die Neurowissenschaften einbeziehen, um ein systematisches Forschungsprogramm zu entwickeln, das die Perspektiven aufeinander abstimmt und die Fragmentierung überwindet. Die Leseforschung muss ihren Fokus erweitern, um Disziplinen wie die Informationsverhaltensforschung, die Vermittlung von Informationskompetenz, die Mediengestaltung, die Aufmerksamkeitsforschung und die Neurowissenschaften einzubeziehen und ein systematisches Forschungsprogramm zu gestalten, das die Perspektiven aufeinander abstimmt und die Fragmentierung überwindet. Die Zukunft des Lesens beeinflusst die Zukunft unserer Gesellschaften. Eine demokratische Gesellschaft, die sich auf einen fundierten Konsens aller Beteiligten stützt, kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Leserinnen und Leser in der Lage sind, auf höherem Niveau zu lesen. Die politischen Entscheidungsträger in allen Bereichen müssen sich dessen bewusst sein. Denn, um es mit Margaret Atwoods viel zitierter Warnung zu sagen: "Wenn es keine jungen Leser und Schriftsteller gibt, wird es bald auch keine älteren mehr geben. Die Alphabetisierung wird tot sein, und die Demokratie ... wird dann ebenfalls tot sein".

Das Manifest, veröffentlicht am 10. Oktober in Ljubljana, wurde verfasst von Miha Kovač (Universität Ljubljana), Anne Mangen (Norwegisches Zentrum für Leseerziehung und -forschung in Stavanger), Adriaan van der Weel (Universität Leiden) und André Schüller-Zwierlein (Univer-sitätsbibliothek Regensburg). Die drei Erstgenannten hatten bereits 2019 die "Stavanger-Erklärung zur Zukunft des Lesens im Zeitalter der Digitalisierung" initiiert