Lesetipp: Sandra Kegel in der FAZ über Charlotte Gneuß

Wer darf über die DDR schreiben?

15. September 2023
Michael Roesler-Graichen

Charlotte Gneuß, 1992 in Ludwigsburg geboren, erzählt in ihrem Roman "Gittersee" eine Geschichte, die in der DDR der 70er Jahre spielt. Das bereitet einigen in der Literaturszene Unbehagen. Sandra Kegel rollt die Sache in der FAZ auf und kommt zum Schluss: Die innere Wahrheit zählt, nicht eine hundertprozentige Faktentreue.

Bisher schien es Konsens zu sein, dass Bücher über die DDR in der Regel von Menschen geschrieben werden, die die DDR selbst erlebt haben, schreibt Sandra Kegel in der "FAZ" vom 15.9.23 ("Die Akte Gneuß", S. 11). Darf dann eine 1992 in Ludwigsburg geborene Autorin, die die DDR aus eigener Anschauung gar nicht kennen kann und auch mit dem damaligen Sprachgebrauch nicht vertraut war, einen Roman schreiben, der in der DDR spielt?

Diese Frage muss man ernst nehmen vor dem Hintergrund, dass, wie Kegel schreibt, kein geringerer als der S. Fischer-Autor Ingo Schulze, der in Dresden geboren und in der DDR sozialisiert wurde, eine Mängelliste zum Roman verfasst hat, die er dem Geschäftsführer von S. Fischer, Oliver Vogel, in der Absicht geschickt hat, dem Verlag und der Autorin freundlich unter die Arme zu greifen. Und die Frage wie der beschriebene Vorgang sind außerdem von Gewicht, weil Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee" (S. Fischer) auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 steht. Und ausgerechnet bei der Jury des Deutschen Buchpreises landet diese nur für den verlagsinternen Gebrauch bestimmte Mängelliste (in anonymisierter Form), wie deren Sprecherin Katharina Teutsch gegenüber der "FAZ" bestätigt. Spätestens ab diesem Punkt, so Kegel, sei die Sache öffentlich.

Doch welche Rolle spielt es, ob die Autorin statt des Wortes "Plastetüte" (richtig) das Wort "Plastiktüte" (falsch) in ihrem Text verwendet – oder das Wort "lecker" benutzt, das zu DDR-Zeiten unüblich gewesen sei? Sandra Kegel setzt diesen philiströsen Anmerkungen die Wahrheit des Romans, eines Werkes der Fiktion, entgegen:

"Vielmehr werfen sie [die Beanstandungen] die spannende Frage auf, ob sie überhaupt den Goldstandard eines Romans treffen. Ob also die Frage 'War das damals in der DDR nun genau so, oder war es das nicht?' die richtige ist, um die Qualität von Literatur zu beurteilen."

Sandra Kegel verteidigt in ihrem Artikel die "innere Wahrheit" des Romans und ebenso die Freiheit der Fiktion, Grenzen zu überschreiten und sich eben auch über Fakten hinwegzusetzen – wie Martin Mosebach es tat, als er in seinem Roman "Das Blutbuchenfest", der Anfang der 90er Jahre spielte, ein Mobiltelefon zum Einsatz brachte. Romane, so Kegel in der "FAZ", "müssen dramaturgisch verdichten, um ihre innere Wahrheit zu intensivieren. Daran sind sie zu messen, das ist der Goldstandard".