Der Tod der anderen
Die »Angstlust« ist eine der Triebfedern, die True Crime so beliebt macht. Inzwischen weist das Subgenre viele Facetten auf: vom dokumentarischen Roman im Reportagestil bis zur literarischen Adaption. Eine Tatortbegehung.
Die »Angstlust« ist eine der Triebfedern, die True Crime so beliebt macht. Inzwischen weist das Subgenre viele Facetten auf: vom dokumentarischen Roman im Reportagestil bis zur literarischen Adaption. Eine Tatortbegehung.
Mit dem Morden verhält es sich offenbar wie mit Kochen oder Sex: Je weniger es die Deutschen tun, umso lieber lesen sie darüber. Schließlich sinkt seit Jahren die Zahl der Tötungsdelikte – während das Interesse daran hohe Zuwachsraten verzeichnet. Gerade dort, wo es richtig, nämlich wirklich zur Sache gegangen ist. »True Crime« nennt sich der Trend zur Geschichte hinter der Statistik. Frei nach Alfred Hitchcock, der einmal meinte: »Ein Blick in die Welt beweist, dass Horror nichts anderes ist als Realität.«
Auch die Autorin Christa von Bernuth erklärt den besonderen Grusel der echten Verbrechen damit, dass diese »tatsächlich oft noch absurder und grausamer sind als ausgedachte«. Die Münchnerin kann darüber qualifiziert Auskunft geben. Sie kennt beide Seiten, hatte bereits erfolgreich fiktionale Krimis veröffentlicht, bevor sie jetzt mit »Tief in der Erde« (Goldmann, 384 S., 16 Euro) die erschütternde Tragödie der Entführung der zehnjährigen Ursula Herrmann Anfang der 1980er Jahre zu einem packenden Roman verarbeitet hat.
Eines der Highlights des True-Crime-Genres, weil sich hier seine Stärken zeigen: den Backstagebereich eines Falls ebenso auszuleuchten wie die Inszenierung seines Bühnenbilds. Das Schicksal der Protagonisten, das Milieu zu würdigen und dabei aber auch neue Perspektiven aufzeigen zu können. Tatsächlich hat Christa von Bernuth – die für das Buch eng mit Ursula Herrmanns Bruder zusammengearbeitet hat – neue Indizien entdeckt, die einen anderen Täter vermuten lassen als den für den Mord Verurteilten.
Dafür fielen »wahnsinnig aufwendige Materialrecherchen« an, so die Autorin. Genau die machten, sagt sie, eben auch den Unterschied zwischen dem fiktionalen und dem Schreiben »so nah wie möglich an der Wahrheit« aus. Eine Nähe, mit der auch die Schweizer Autorin Christine Brand dem Grauen eine verstörende Wucht verleiht. Zumal es auch in ihrem Buch »Bis er gesteht« (Kampa, 224 S., 16,90 Euro) um den Mord an Kindern geht. Sie war als Justizreporterin für die »NZZ« im Gerichtssaal, als der Fall dieser Familientragödie verhandelt wurde, und vermittelt in ihrer literarischen Nacherzählung überzeugend noch einmal den Eindruck von damals: wie die Tat »die Grenze des Fassbaren« überschreitet.
Der Autor Alexander Schuller hat noch einmal einen ganz anderen Zugang, der ihm sein Thema für »Der Kuckuck« eröffnete (Knaur, Oktober, 400 S., 9,99 Euro). Der Autor lebte tatsächlich eine Weile mit dem »Kuckuck«, einem narzisstischen Soziopathen in einer Wohngemeinschaft. Ahnungslos, wie das ganze Umfeld von »Lukas Friedrich«, so sein Name im Roman. Alexander Schuller packt ebenso überzeugend wie souverän die grauenvolle Nonchalance, mit der der Kuckuck tötete, und das Doppelleben eines charmanten Womanizers und zugleich mitleidslosen Menschenverächters in eine spannende Geschichte, um eine jahrzehntelange Täuschung zu erzählen. Der – auch das wird deutlich – jeder erlegen wäre.
Womit wir vermutlich bei einem weiteren Magnetismus von True Crime wären, dem Spannungsfeld von »das hätte mir auch passieren können« und »schon traurig, das Schicksal – aber die gute Nachricht ist ja: es hat andere ereilt«. »Angstlust« nennt sich der süße Nervenkitzel im geschützten Raum, der sich wie ein Vampir vom Blut anderer nährt. Ein universelles Phänomen, das sich in den Schauergeschichten mittelalterlicher Bänkelsänger ebenso findet wie im Märchen.
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