Unfähig zu streiten
Wenn an die Stelle guter Argumente der Gesinnungs-TÜV tritt, dann ist die Grundlage einer freien Gesellschaft gefährdet. Beobachtungen und Buchtipps zu "Cancel Culture".
Wenn an die Stelle guter Argumente der Gesinnungs-TÜV tritt, dann ist die Grundlage einer freien Gesellschaft gefährdet. Beobachtungen und Buchtipps zu "Cancel Culture".
Um die Meinungsfreiheit in Deutschland ist es generell nicht schlecht bestellt. Selbst krudeste Verschwörungsideen und polemische Äußerungen dürfen verbreitet werden, solange sie legal (und damit auch verfassungskonform) sind. Essenziell für den Erhalt einer freien Öffentlichkeit ist aber auch der offene Dialog. »Wir sollten uns mit anderen Positionen auseinandersetzen, solange sie auf dem Boden der Demokratie stehen und geltendes Recht nicht verletzen«, so Christoph Links, Gründungssprecher der IG Meinungsfreiheit im Börsenverein, jüngst im Interview der Woche auf Börsenblatt online.
Stattdessen jedoch ist immer öfter zu beobachten, dass gegen Sprecher*innen, die politisch Unerwünschtes, angeblich Diskriminierendes oder scheinbar Rückwärtsgewandtes gesagt oder geschrieben haben, soziale oder moralische Sanktionen verhängt werden – etwa die Ausladung von einer Lesung, die Absage eines ganzen Podiums oder die Aufhebung eines Verlagsvertrags. Das hat den nicht unumstrittenen Begriff der »Cancel Culture« in der hiesigen Öffentlichkeit heimisch gemacht.
Dabei bringen manche Kritiker*innen kein Gespür für die Ambivalenz oder Mehrdeutigkeit mancher sprachlichen Manifestation auf. Ironische Anspielungen oder satirische Zuspitzungen werden gern überhört oder auf den nackten Wortsinn reduziert. Zudem sind viele Menschen von einem puristischen Eifer erfüllt, der sie überall Verstöße gegen ethnische Identität, sexuelle Selbstbestimmung oder Grundrechte wittern lässt.
Ein Beispiel, das schon länger zurückliegt, war das auf der Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule angebrachte spanische Kurzgedicht »avenidas« von Eugen Gomringer, das beim AStA der Schule offenbar nur eine Lesart zuließ: dass der im Gedicht genannte »Bewunderer« von Frauen (»admirador«) übergriffig und sexistisch sei. Vor zwei Jahren ist das Gedicht auf der Fassade der Hochschule übermalt worden. Kulturstaatsministerin Monika Grütters sprach damals von einem »Akt der Kulturbarbarei«. Inzwischen ist das Gedicht in zwei Versionen auf einem anderen Berliner Gebäude angebracht worden.
Der Fall Eckhart zeigt, wie schwer es ist, im konkreten Fall eine Grenze zu ziehen.
Michael Roesler-Graichen
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