Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2022

"Sie brauchen uns, um mutiger zu sein!"

17. März 2022
Nils Kahlefendt

Der Krieg gegen die Ukraine ist auch bei der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung das bestimmende Moment. Preisträger Karl-Markus Gauß und der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch (per Videobotschaft) betonten, wie wichtig jetzt die europäische Solidarität sei.

Während der Posaunenchor, der eben noch ein schütteres „Dona nobis pacem“ der Menge auf dem Nikolaikirchhof begleitet hat, seine Instrumente verstaut, zeigt die große Videoleinwand vor dem Gemeindehaus einen bärtigen Mann, der spürbar um Fassung ringt und das verschmitzt-ironisches Lächeln, das man eigentlich von ihm kennt. Juri Andruchowytsch, der berühmteste Schriftsteller der Ukraine, hat am 21. Tag von Putins Angriffskrieg in seiner Heimatstadt Iwano-Frankiwsk eine Videobotschaft für uns aufgenommen. Eingespielt wird sie auf einer gemeinsam von der Stadt Leipzig, der Leipziger Messe, dem Börsenverein und der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde St. Nikolai organisierten Friedensaktion, kurz vor der Verleihung des Leipziger Verständigungs-Buchpreises, den Andruchowytsch selbst 2006 erhalten hat. Damals hatte der Autor gleich um die Ecke, im Gewandhaus, eine Rede gehalten, die vor allem im deutschsprachigen Teil Europas ein immenses Echo auslöste. Andruchowytschs Bitte an die europäischen Funktionsträger: „Keine Botschaften zu senden, die die Hoffnung töten“. Seitdem hat sich die EU für die Ukraine und andere „Nachfolgerepubliken“ der UdSSR viel schlauen Ersatz ausgedacht; Nachbarschaft, Partnerschaft, Assoziierungsabkommen.

Nun, 15 Jahre, also fast eine Generation später, steht Andruchowytsch in dem kargen Kulturzentrum VAGABUNDO, das er vor drei Jahren mit Freunden aufgebaut hat – ein passender Name für Galizien, die „Vagabundenregion“ Europas, wie der Autor findet. 15 Jahre nach seiner Leipziger Rede, nach der das bis auf den letzten Notsitz besetzte Gewandhaus stehend applaudierte, und auch der Schreiber dieser Zeilen sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischte, sagt Andruchowytsch diese Sätze: „Europa hat sich endlich für die Ukraine geöffnet – jedenfalls an den Grenzen, für Flüchtlinge. Zumindest das bisher. Aber die massenhaft blau-gelben Dekorationen genügen uns nicht mehr. Die totalen Stürme von Begeisterung und Empathie, die Standing Ovations und die Kundgebungen.“ Das alles sei rührend und wunderbar, aber es genüge nicht mehr, angesichts der Hölle, in der sich ein friedliches Volk befindet. Andruchowytsch fordert die vollwertige EU-Mitgliedschaft der Ukraine. „Sie brauchen uns, um viel größer, mutiger und stärker zu sein.“

Die Videobotschaft kann hier im Original angeschaut werden

In unserem Kulturzentrum finden jetzt die psychologischen Trainings für die Flüchtlingskinder statt. Wo es früher Ausstellungen gab, liegen jetzt die Verpackungen der humanitären Hilfe für Charkiw. Unser Name "Vagabundo" hat sich als sehr passend herausgestellt

Juri Andruchowytsch

Neben Andruchowytsch wollte sich auch Masha Gessen, die Preisträgerin von 2019, mit einer Botschaft aus Moskau nach Leipzig wenden. Die Amerikanerin mit russischen Wurzeln musste Russland offenbar fluchtartig verlassen, der Kontakt brach ab – so berichtet es Burkhard Jung. Noch am 9. Oktober letzten Jahres stand der Leipziger Oberbürgermeister mit seinem Kiewer Kollegen Vitali Klitschko auf diesem Platz, Klitschko hielt am Leipziger Großfeiertag die traditionelle „Rede zur Demokratie“ in der Nikolaikirche. Nun, am 21. Tag von Putins Krieg, erinnert Sebastian Feydt, der Pfarrer der Nikolaikirche, an die „Keine Gewalt!“-Rufe, die im Herbst 89 über den Kirchhof echoten. „Damals rollten keine russischen Panzer“, sagt Feydt. „Was das für ein historisches Geschenk war, wird mir erst heute bewusst – und welche Verpflichtung dieses Geschenk ist.“

„Der Kritiker ist Platzanweiser im Circus Maximus des Literaturbetriebs. Nicht mehr. Eher weniger“, hielt die Kritikerin und Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl, in Anlehnung an Walter Benjamins berufsethischen Grundsatzkatalog „Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen“ (1928), einmal gelassen fest. Das ist überraschend uneitel im an Eitelkeiten nicht eben armen Literaturbetrieb. Die Laudatio, die die Wienerin ihrem Salzburger Kollegen Karl-Markus Gauß hält (über den sie, gemeinsam mit Zsolnay-Programmleiter Herbert Ohrlinger, vor zwölf Jahren einen profunden Reader herausgegeben hat), ist ein geschliffenes Stück Literatur, das zwar schon beim Zuhören Freude macht, aber unbedingt noch einmal nachgelesen, nachgeschmeckt werden will. Strigl hakt sich an Gauß’ preisgekröntem Buch „Die unaufhörliche Wanderung“ fest – ein Titel, der auch den Existenzmodus seines Autors fasst. „Als Forscher und Reporter nicht minder denn als Leser, Denker und Schriftsteller ist Karl-Markus Gauß ein Wanderer“, sagt Strigl – und nimmt in ihrer Lobrede den „symbolischen Rucksack“ des Kollegen in Augenschein, seine „Siebensachen“, mit deren Hilfe er zuverlässig seinen Bestimmungsort erreicht. Der Weg ist das Ziel, oder, wie Heimito von Doderer deutlich weniger verblasen formulierte: „Umwege erhöhen die Ortskenntnisse.“

 

Karl-Markus Gauß ist um den Job des Dankredners an diesem Abend nicht zu beneiden. Schließlich tritt er in Zeiten vor sein Publikum, da praktisch jeder Tag den Redenentwurf des Vortags zunichtemacht. „Kein Prophet, auch keiner, der auf den heutigen Namen Experte hört, hat vor einigen Wochen vorausgesehen, was sich doch, wie wir heute einräumen, seit Jahren angekündigt hat.“ Paukenschlag Nummer eins, aus heutiger Sicht schon fast ein Luxus-Problem: Die Nachricht von der Buchmesse-Absage – für Gauß ausgelöst vor allem durch die Absage der großen Konzerne. Während die Erregungskurve in der Branche seit jener Februar-Woche längst wieder auf Durchschnitts-Level gefallen ist, Groß und Klein, Ost und West fest entschlossen sind, sich lieb zu haben und auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer in der Nikolaikirche – zusammen mit Grüßen der absenten Kulturstaatsministerin Claudia Roth – das Mantra überbringt, dass Bundesregierung und Freistaat „zu dieser Buchmesse stehen“ (und es schon Ende März zum angekündigten „Zukunftsgespräch“ komme) ... Während all diesem bohrt der Preisträger noch einmal tief in der schon in Abheilung begriffenen Wunde: „Wer es der Buchhaltung, so wichtig sie ist, überlässt, über Bücher, Buchmessen, Feste der Literatur und derer, die ihr Leben mit ihr verbunden haben, zu entscheiden, der wird eines Tages jenem Produkt den gesellschaftlichen Wert genommen haben, mit dem er doch seine besten Geschäfte gemacht hat.“

Inzwischen leben wir in einer anderen Welt. Gauß, ein trittsicherer Wanderer mit festem Schuhwerk, geißelt Putins Angriffskrieg nicht zuletzt als „militärische Sonderoperation“ gegen die Sprache selbst, mit dem Ziel, „aus der Lüge eine staatsbürgerliche Pflicht zu machen“. Er macht jedoch ebenso keinen Hehl daraus, das er die Forderung der wichtigsten ukrainischen Literatur-Institutionen, alle verständliche Verzweiflung und alle Wut eingerechnet, zum Verbreitungs-Stop jedweder russischer Literatur für unannehmbar hält: „Würde die literarische Welt vor 80, 90 Jahren diese Forderungen befolgt haben, dann hätten die entschiedenen Gegner des Nazismus ihre Manuskripte für die Schublade schreiben müssen, von Thomas Mann zu Anna Seghers, von Joseph Roth zu Else Lasker Schüler, von Stefan Zweig zu Irmgard Keun, von Günter Anders zu Theodor W. Adorno.“

Karl-Markus Gauß entlässt das Publikum auf harten Kirchenbänken immerhin mit der Hoffnung auf Verständigung - zumindest zwischen denen, „die auf der einen Seite aufbegehren, um keine Täter zu werden, und denen, die auf der anderen Seite nicht Opfer bleiben wollen“. Und mit dem beinahe utopischen Bild von einer Leipziger Buchmesse 2023. Auf der „russische Autorinnen, die nicht trauern, weil ihr Despot den Krieg verloren hat, und ukrainische Autoren, die nicht jubeln, weil Russland selbst aus der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen verstoßen wurde, mit uns – über Europa reden.“