Während der Posaunenchor, der eben noch ein schütteres „Dona nobis pacem“ der Menge auf dem Nikolaikirchhof begleitet hat, seine Instrumente verstaut, zeigt die große Videoleinwand vor dem Gemeindehaus einen bärtigen Mann, der spürbar um Fassung ringt und das verschmitzt-ironisches Lächeln, das man eigentlich von ihm kennt. Juri Andruchowytsch, der berühmteste Schriftsteller der Ukraine, hat am 21. Tag von Putins Angriffskrieg in seiner Heimatstadt Iwano-Frankiwsk eine Videobotschaft für uns aufgenommen. Eingespielt wird sie auf einer gemeinsam von der Stadt Leipzig, der Leipziger Messe, dem Börsenverein und der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde St. Nikolai organisierten Friedensaktion, kurz vor der Verleihung des Leipziger Verständigungs-Buchpreises, den Andruchowytsch selbst 2006 erhalten hat. Damals hatte der Autor gleich um die Ecke, im Gewandhaus, eine Rede gehalten, die vor allem im deutschsprachigen Teil Europas ein immenses Echo auslöste. Andruchowytschs Bitte an die europäischen Funktionsträger: „Keine Botschaften zu senden, die die Hoffnung töten“. Seitdem hat sich die EU für die Ukraine und andere „Nachfolgerepubliken“ der UdSSR viel schlauen Ersatz ausgedacht; Nachbarschaft, Partnerschaft, Assoziierungsabkommen.
Nun, 15 Jahre, also fast eine Generation später, steht Andruchowytsch in dem kargen Kulturzentrum VAGABUNDO, das er vor drei Jahren mit Freunden aufgebaut hat – ein passender Name für Galizien, die „Vagabundenregion“ Europas, wie der Autor findet. 15 Jahre nach seiner Leipziger Rede, nach der das bis auf den letzten Notsitz besetzte Gewandhaus stehend applaudierte, und auch der Schreiber dieser Zeilen sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischte, sagt Andruchowytsch diese Sätze: „Europa hat sich endlich für die Ukraine geöffnet – jedenfalls an den Grenzen, für Flüchtlinge. Zumindest das bisher. Aber die massenhaft blau-gelben Dekorationen genügen uns nicht mehr. Die totalen Stürme von Begeisterung und Empathie, die Standing Ovations und die Kundgebungen.“ Das alles sei rührend und wunderbar, aber es genüge nicht mehr, angesichts der Hölle, in der sich ein friedliches Volk befindet. Andruchowytsch fordert die vollwertige EU-Mitgliedschaft der Ukraine. „Sie brauchen uns, um viel größer, mutiger und stärker zu sein.“