Neue politische Sachbücher

Schmaler Grat

3. April 2021
Michael Roesler-Graichen

Die Corona-Krise ist eine Zerreißprobe – für die liberale Demokratie, für den Zusammenhalt der Gesellschaft, für jeden Einzelnen. Was die permanente Ausnahmesituation bedeutet und welche Risiken und Chancen ihr innewohnen: Das beleuchten zahlreiche politische Sachbücher.   

Die Corona-Krise ist eine der größten Herausforderungen für Politik und Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, vielleicht sogar die größte. Was macht die Pandemie mit unserem Land? Welche wirtschaftlichen und sozialen Folgen hat sie? Und wie verändert sie den gesellschaftlichen Diskurs?
Die beispiellosen Corona-Maßnahmen finden nicht ungeteilte Zustimmung. Es handele sich um schwerwiegende, demokratisch nicht ausreichend legitimierte Eingriffe in Grundrechte, lautet die Kritik. In einem Beitrag für die »Juristenzeitung« (»Why Cons­titution Matters«, September 2020) hatten renommierte Verfassungsrechtler in diesem Zusammenhang eine »weit­reichende Entparlamentarisierung« moniert.

Diese Einschätzung teilt auch Heribert Prantl, vormals Mitglied der Chefredaktion bei der »Süddeutschen«. In dem bei C. H. Beck erschienenen Band »Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne« (200 S., 18 Euro) wettert er gegen eine Politik der Corona-Verordnungen, die ohne parlamentarische Kontrolle agiere: »Vor dem Lockdown des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens im Frühjahr kam der Selbst-Lockdown des Parlaments.« Die Exekutive habe am Bundestag vorbei eine »untergesetzliche Parallelrechtsordnung« geschaffen, die ungute Folgen gehabt hätte – bis hin zu den irrationalen Protesten gegen die Pandemiebekämpfung. Prantls zentraler Kritikpunkt: Die exekutiven Maßnahmen seien nicht immer verhältnismäßig; Gerichte hätten sie regelmäßig kassiert. Im Schlussteil plädiert Prantl für Vielstimmigkeit in der Debatte und lehnt eine einseitige Berufung auf Instanzen wie »Wissenschaft« oder auf »Alternativlosigkeit« ab.

Die Fixierung auf wissenschaftliche Erkenntnise in Krisensitua­tionen könne die Akzeptanz der Demokratie untergraben, indem sie gesellschaftliche Interessenkonflikte überlagere, meint der Wiener Soziologe Alexander Bogner in seinem Buch »Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die ­Demokratie gefährdet« (Reclam, 132 S., 6 Euro). Diese kehrten im Gewand eines wahrheitsfeindlichen Populismus zurück.

Was »demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten« (so der Untertitel) charakterisiert, versucht der bei Campus verlegte Band »Coronakratie« auszuloten (334 S., 39,95 Euro). Den Autoren geht es dabei nicht darum, einer »Wesensveränderung der freiheitlich-demokratischen Verfasstheit des politischen Systems« das Wort zu reden, sondern den Pandemie-Modus des Regierens zu beschreiben. Und der oszilliert permanent zwischen der Sorge um das gesundheitliche Wohlergehen der Bevölkerung und die Stabilität des Gesundheitssystems auf der einen Seite und den Freiheitsrechten des Einzelnen auf der anderen Seite.

Nachdem in der Anfangsphase virologische und epidemiologische Beiträge die öffentliche Auseinandersetzung beherrschten, traten auch die Sozial- und Kulturwissenschaften auf den Plan. Bereits im Juli 2020 erschien bei transcript der Titel »Die Corona-Gesellschaft« (432 S., 24,50 Euro), in dem namhafte Vertreter*innen aus Soziologie, Philosophie, Politik- und Geschichtswissenschaft sowie Kulturwissenschaft die Lage analysierten und Perspektiven für die Zukunft entwarfen.

Postpandemische Aussichten

»Rausgeblickt: Perspektiven für eine Welt nach Corona« hieß eine Online-Interviewreihe der Friedrich-Ebert-Stiftung, die von Mai bis September 2020 lief. Verantwortlich für die Reihe war Thomas Hartmann, der im Referat Lateinamerika und Karibik der Stiftung arbeitet. Hochkarätige Gesprächspartner waren eingeladen, unter ihnen der französische Starökonom Thomas Piketty, die Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD, Gesine Schwan, die Soziologen Heinz Bude und Andreas Reckwitz sowie die Politökonomin Maja Göpel. Hartmann und sein Kollege Jochen Dahm haben daraus die achtbändige Reihe »rausgeblickt« erstellt, die sich mit den verschiedenen Aspekten der Pandemie (Staat, Markt, Klima, Geschlechter etc.) beschäftigt. »Die Interviewform eignet sich gut, um komplexe Gedankengänge auf verdauliche Art zu vermitteln und Orientierung zu geben. Die Pandemie ist dabei der Ausgangspunkt, um über notwendige Veränderungen und Lösungen für alte und neue Missstände zu sprechen«, so Hartmann. Die ersten vier Bände sind Mitte Februar, die weiteren vier Mitte März bei J. H. W. Dietz Nachf. erschienen (je 10 Euro).

Die Pandemie ruft auch Medienwissenschaftler auf den Plan, beispielsweise Roberto Simanowski mit seinem Buch »Das ­Virus und das Digitale« (Passagen Verlag, 136 S., 16,90 Euro). Er setzt sich darin unter anderem mit den politischen Folgen der beschleunigten Digitalisierung für die Gesellschaft aus­einander, auch mit den Nebenwirkungen, die das Internet mit sich bringt – etwa Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit Anti-Corona-Protesten (»Infodemie«).

Mit den »Netzwerken der Demokratiefeinde« (so der Unter­titel) in der Pandemie beschäftigt sich der von Heike Kleffner und Matthias Meisner herausgegebene Band »Fehlender Mindestabstand« (Herder, 352 S., 22 Euro). Die Autor*innen des Bands porträtieren das gesamte Spektrum – von Querdenken-711 über QAnon bis zur neuen Rechten und ihrem »parlamentarischen Arm«, der AfD (so Tilman Steffen in einem Beitrag). Und sie bilden ein Klima ab, in dem Rassismus und anti­demokratische Narrative gedeihen.

Im Fokus der Kritik steht auch die EU: Das Missmanagement bei der Impfstoffbeschaffung wurde als Versagen gewertet. Antworten auf die Frage, weshalb Brüssel so im Fokus der Kritik steht, sucht der niederländische Historiker und politische Philosoph Luuk van Middelaar in seinem Buch »Das europäische Pandämonium. Was die Pandemie über den Zustand der EU enthüllt« (Suhrkamp, 202 S., 16 Euro).

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