Interview mit Kia Vahland zum Deutschen Sachbuchpreis

Reflexion in einer Zeit der Diskurszerstörung

15. Juni 2021
Sabine Schmidt

Mehr als 220 Titel wurden eingereicht, acht nominiert – und jetzt gab die Jury den Sieger des Deutschen Sachbuchpreises bekannt. Jurysprecherin Kia Vahland erklärt, was an Jürgen Kaubes Titel „Hegels Welt“ besonders ist – und inwiefern er Impulse für die Gegenwart gibt.

Die Jury des Deutschen Sachbuchpreises hat sich für "Hegels Welt" entschieden – warum gerade für diesen Titel?
Das Argument ist das Buch selbst: Es ist elegant geschrieben, und es befasst sich mit einem Denker, der die Welt durchdringen, verstehen wollte. Diesen Anspruch des Wissenwollens löst Jürgen Kaube in ganz besonderer Weise ein: mit Hegel als Sujet seines Buchs und mit der Art seines Schreibens, mit seinem eigenen Reflektieren.

Die Aufgabe der Jury war es, ein herausragendes Sachbuch auszuwählen, das Impulse für die gesellschaftliche Auseinandersetzung unserer Gegenwart gibt. Hegel wurde 1770 geboren, Jürgen Kaube schreibt über die Welt des 18. und 19. Jahrhunderts – inwiefern gibt er Impulse für unsere Zeit?
Hegel lebte in einer Umbruchzeit, das ist unserer Gegenwart ähnlich. Er setzte sich mit ihr tiefgehend auseinander – und es ist wunderbar, wie Jürgen Kaube sich ihm nähert. Das ist natürlich kein direkter Kommentar zu unserer Zeit. Aber Hegels und Kaubes Nachfragen, das Wissenwollen, das Vorurteilsfreie, das Reflektieren: Das ist für mich entscheidend, und hier sehe ich den Bezug zu unserer Zeit – zu einer Zeit, die differenzierendes Denken, die vorurteilsfreie Suche nach Wahrheit so ganz besonders dringend braucht.

Die Jury hatte eine Mammutaufgabe zu bewältigen: Mehr als 220 Bücher wurden für den Deutschen Sachbuchpreis eingereicht. Wie haben Sie gearbeitet?
Wir sind mit drei Kriterien gestartet: stilistische Eleganz, hervorragende Recherche, Relevanz für die Gegenwart. Dazu kam dann als weiteres sehr wichtiges Moment die Art hinzu, wie sich ein Buch mit der Welt auseinandersetzt: Das Ringen darum, den Dingen auf den Grund zu gehen, die eigenen Vorurteile zu hinterfragen, Neues zu finden. Diesen Kriterien entsprechen die acht Titel, die wir nominiert haben: Es sind herausragende Bücher, die alle preiswürdig sind.

Es geht beim Deutschen Sachbuchpreis auch darum, ein breites Publikum für das Lesen anspruchsvoller Sachbücher zu gewinnen. Glauben Sie, dass dieser Anspruch mit "Hegels Welt" eingelöst werden kann: mit einem Buch über einen äußerst komplizierten Denker?
Unbedingt! Mit "Hegels Welt" genauso wie mit den anderen sieben nominierten Titeln, die alle gut geschrieben sind und denen es um Wissen und Reflexion geht. Gerade jetzt, gerade in unserer Zeit gibt es dafür ein großes Bedürfnis und ein großes Publikum: Viele sind zu Recht nicht einverstanden mit der Diskurszerstörung, die wir aktuell beobachten müssen, mit einem Aufleben von Verschwörungstheorien, Wissenschaftsfeindlichkeit, gezielter Desinformation und Verleumdung. Jürgen Kaube tritt dem mit seinem Hegel-Buch entgegen – und die anderen nominierten Bücher tun das auf ihre Art ebenfalls.

Die Jury setzt sich aus sieben Personen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammen: Literaturkritik, Buchhandel und Wissenschaft. Hat das die Zusammenarbeit erschwert?
Im Gegenteil: Ich fand diese Interdisziplinarität persönlich sehr bereichernd, und sie hat der Arbeit gutgetan. Besonders wichtig war mir, dass es uns im kollegialen Diskurs gelungen ist, ausschließlich aus den Büchern heraus zu diskutieren und sich darüber in aller Tiefe auseinanderzusetzen.

Der Deutsche Sachbuchpreis ist nicht der erste und einzige Sachbuchpreis. Braucht es ihn überhaupt?
Es braucht ihn – und ich bin dankbar für diese Initiative des Börsenvereins. Eben weil wir in einer Zeit leben, in der Wissen und Reflexion zunehmend zerschossen und an den Rand gedrängt werden. Die Tagesdebatte allein reicht nicht aus, um die großen Probleme anzugehen. Wir brauchen das gut recherchierte Sachbuch, das der Wirklichkeit und zugleich dem breiten Publikum verpflichtet ist. Der Deutsche Sachbuchpreis sensibilisiert für diese Notwendigkeit, und er stärkt das Sachbuch. Deshalb finde ich ihn so wichtig.