Eine andere Sicht der Dinge vertritt der Autor Hasnain Kazim. Er berichtet, wie er vergangenen Oktober von mehreren Seiten aufgefordert worden sei, aus Solidarität mit Kuhnke ebenfalls nicht zur Messe zu kommen. Er sei jedoch anderer Meinung gewesen und deshalb hingegangen – "was mir den Vorwurf einbrachte, ich sei nicht solidarisch genug".
Für den Soziologen El-Mafaalani zeigt sich an dem Beispiel die Notwendigkeit der aktiven Auseinandersetzung. Er sei froh darüber, dass der Streit mittlerweile auch innerhalb der Verlage geführt werde. Zwar habe die Empfindung von mangelnder Solidarität "eine nachvollziehbare Logik", seine eigene Position sei jedoch eine andere: "Alle, die nicht Angst haben, gehen hin und streiten sich richtig." Solche "Nazi-Verlage" hätten auch in den Vorjahren schon auf der Messe ausgestellt.
Ein beeindruckend genau geführtes Gespräch über das Erben und Weitervererben von Migrationserfahrung bildet am Sonntagabend den Abschluss des dreitägigen Festivals – eine Nachhilfestunde für alle, die ihre eigene Herkunftswelt nicht verlassen haben (müssen) und denen es deshalb Mühe macht, die Erfahrungen von Anderssein, von Zerrissenheit und biografischen Brüchen nachzuvollziehen.
Der Autor und Politikwissenschaftler Ozan Zakariya Keskinkılıç fragt: "Wer wäre ich ohne Rassismus?" In seiner Lebensgeschichte treffen gleich zwei Konstellationen des Andersseins zusammen: als "der Türke" in Deutschland; für seine Familie in der Türkei allerdings auch als Angehörige einer dortigen arabischen Minderheit. In einer zugleich komischen und tieftraurigen Passage seines Buches Muslimaniac (Edition Körber) berichtet Keskinkılıç von den ersten Stunden nach der Geburt seiner Tochter, davon, wie er in Berlin nach der Hausgeburt mit dem in ein Leinentuch gewickelten Neugeborenen zur Kinderärztin nebenan geht, wie die Kleine dort pädiatrisch vermessen und mit einem "ärztlichen Migrationszertifikat" versehen wird – und siehe da, das Kind habe einen "Mongolenfleck", also eine harmlose Häufung von Pigmentzellen am unteren Rücken, die im Lauf der Zeit blasser wird und meistens vollständig verschwindet. "Ein Fleck, der keine gesundheitliche Relevanz hat, wird durch einen solchen Befund überhaupt erst relevant gemacht. Warum?"
Keskinkılıç wundert sich "über die Leidenschaft selbst der Medizin, Menschen zu normieren", Beobachtetes als "anders" zu markieren. "Kinder werden erkannt, es gibt Indizien. Es entsteht die Gefahr der Entdeckung, der Sichtbarmachung." Er habe schon weinen müssen angesichts der Sorge, dass seiner Tochter aufgrund ihrer vererbten Biografie derartige Ausgrenzungserfahrungen bevorstünden.