Literaturhaus Frankfurt: Festival für kulturelle Diversität

Menschen mit "Mongolenfleck"

21. Februar 2022
Torsten Casimir

"WIR SIND HIER": Zwei Jahre nach dem Mordanschlag in Hanau lädt das Literaturhaus Frankfurt erneut zum Gespräch. Es geht um alltäglichen Rassismus und Diskriminierung. Und es wird nach Mitteln gesucht, der Ausgrenzung von Menschen mit Migrationserbe entgegenzuwirken.

"WIR SIND HIER." So ist das Festival der Diversität auch im zweiten Jahr überschrieben. In Großbuchstaben, dem Lautstärke-Modus der geschriebenen Sprache, steht diese öffnende, eine vermeintliche Mehrheitsgesellschaft zur Reaktion herausfordernde Zeile da. Und? Wo seid ihr? Diese auf Auseinandersetzung drängende Absicht des Festivals wird gleich in der Eröffnungsveranstaltung deutlich: "Wir sind hier. Wo steht Deutschland?" Eine mutmachende lokale Teilantwort immerhin gibt das Literaturhaus vorab in Form der Meldung "Saaltickets ausverkauft", hinzu kommen hunderte Streaming-Käufe quer durch die Republik. Schon mal gut.

Selma Wels, die frühere Binooki-Verlegerin, die das Format erfunden und gemeinsam mit Benno Hennig von Lange vom Literaturhaus Frankfurt entwickelt hat, erinnert eingangs an den emotionalen Ursprung ihrer Idee: "Nach dem Terror von Hanau war ich außerstande, still zu bleiben." Gefühle und Erfahrungen von Ausgrenzung seien für sie in Deutschland "mein ständiger Begleiter", sagt Wels, eine in Pforzheim geborene Tochter türkischer Einwanderer.

Ihre Erfahrung wird von den Teilnehmer:innen der Podien und Lesungen durchweg geteilt – allerdings unterscheiden sich die Weisen des Umgangs damit individuell recht stark. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani plädiert für Streitlust. "Man muss sich streiten, sonst kriegt man das nicht hin." In den USA zum Beispiel sei über Jahrzehnte hinweg nicht gestritten worden; jetzt stehe die Gesellschaft vor einer unlösbar anmutenden Situation der Spaltung, und für Versöhnliches scheine es fast zu spät. Für El-Mafaalani steht fest: Ohne Übung misslingt das Streiten, führt nur zu schlechter Laune, Aggression und Unverständnis.

Die Frankfurter Grünen-Stadtverordnete Mirrianne Mahn zieht zwei Jahre nach Hanau ein Zwischenfazit ihrer Enttäuschung: "Es wurde unglaublich viel geredet, auch in der Politik, alle waren woke. Aber es ist nichts passiert." Die Debatten scheinen ihr im Sande zu verlaufen, der Terror werde für politische Posen oft bloß instrumentalisiert. Ihre Perspektive für Auswege aus dem wahrgenommenen Debattenstillstand: "Unsere Parlamente müssen diverser werden." Es bedürfe "klarerer Gesetze" und einer konsequenteren Strafverfolgung der Täter von Rassismus und Diskriminierung.

Erst gegen Ende kommt die von der Journalistin Dunja Hayali sehr persönlich und engagiert moderierte Eröffnungsrunde auch auf den – vermeintlichen? tatsächlichen? – Skandal um die Präsenz des am äußeren rechten Rand zu verortenden Jungeuropa Verlags auf der Frankfurter Buchmesse zu sprechen. Mit uneinheitlichen Befunden: Mirrianne Mahn plädiert erneut dafür, klarer gegen solche Verlage Position zu beziehen. Mit Bezug auf den Messe-Boykott der farbigen Autorin und Antirassismus-Aktivistin Jasmina Kuhnke kritisiert die Grünen-Politikerin Formulierungen wie "sie hat sich nicht sicher gefühlt": Es gehe doch nicht um eine subjektiv empfundene, sondern um eine tatsächliche Bedrohung.

Eine andere Sicht der Dinge vertritt der Autor Hasnain Kazim. Er berichtet, wie er vergangenen Oktober von mehreren Seiten aufgefordert worden sei, aus Solidarität mit Kuhnke ebenfalls nicht zur Messe zu kommen. Er sei jedoch anderer Meinung gewesen und deshalb hingegangen – "was mir den Vorwurf einbrachte, ich sei nicht solidarisch genug".

Für den Soziologen El-Mafaalani zeigt sich an dem Beispiel die Notwendigkeit der aktiven Auseinandersetzung. Er sei froh darüber, dass der Streit mittlerweile auch innerhalb der Verlage geführt werde. Zwar habe die Empfindung von mangelnder Solidarität "eine nachvollziehbare Logik", seine eigene Position sei jedoch eine andere: "Alle, die nicht Angst haben, gehen hin und streiten sich richtig." Solche "Nazi-Verlage" hätten auch in den Vorjahren schon auf der Messe ausgestellt.

Ein beeindruckend genau geführtes Gespräch über das Erben und Weitervererben von Migrationserfahrung bildet am Sonntagabend den Abschluss des dreitägigen Festivals – eine Nachhilfestunde für alle, die ihre eigene Herkunftswelt nicht verlassen haben (müssen) und denen es deshalb Mühe macht, die Erfahrungen von Anderssein, von Zerrissenheit und biografischen Brüchen nachzuvollziehen.

Der Autor und Politikwissenschaftler Ozan Zakariya Keskinkılıç fragt: "Wer wäre ich ohne Rassismus?" In seiner Lebensgeschichte treffen gleich zwei Konstellationen des Andersseins zusammen: als "der Türke" in Deutschland; für seine Familie in der Türkei allerdings auch als Angehörige einer dortigen arabischen Minderheit. In einer zugleich komischen und tieftraurigen Passage seines Buches Muslimaniac (Edition Körber) berichtet Keskinkılıç von den ersten Stunden nach der Geburt seiner Tochter, davon, wie er in Berlin nach der Hausgeburt mit dem in ein Leinentuch gewickelten Neugeborenen zur Kinderärztin nebenan geht, wie die Kleine dort pädiatrisch vermessen und mit einem "ärztlichen Migrationszertifikat" versehen wird – und siehe da, das Kind habe einen "Mongolenfleck", also eine harmlose Häufung von Pigmentzellen am unteren Rücken, die im Lauf der Zeit blasser wird und meistens vollständig verschwindet. "Ein Fleck, der keine gesundheitliche Relevanz hat, wird durch einen solchen Befund überhaupt erst relevant gemacht. Warum?"

Keskinkılıç wundert sich "über die Leidenschaft selbst der Medizin, Menschen zu normieren", Beobachtetes als "anders" zu markieren. "Kinder werden erkannt, es gibt Indizien. Es entsteht die Gefahr der Entdeckung, der Sichtbarmachung." Er habe schon weinen müssen angesichts der Sorge, dass seiner Tochter aufgrund ihrer vererbten Biografie derartige Ausgrenzungserfahrungen bevorstünden.

Dem Fremdsein geht oft ein Fremdgemacht-Werden voraus. Darauf lenken die beiden Schriftstellerinnen Asal Dardan (Betrachtungen einer Barbarin, Hoffmann und Campe) und Dilek Güngör (Vater und ich, Verbrecher Verlag) die Aufmerksamkeit. Güngör, deren Eltern aus dörflicher Umgebung in der Türkei sich nach Deutschland aufgemacht haben und die selbst seit 25 Jahren in Berlin lebt, sagt rückblickend: "Etwas hat mich immer gehemmt, mich hier breit zu machen." Etwa die regelmäßige Frage von Nachbarn "Fahrt ihr in den Sommerferien nach Hause?" – Güngörs Erfahrung: "Du wirst permanent fremd gemacht." 

Ähnliches weiß die Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan zu berichten, die als junges Mädchen mit ihren Eltern aus dem Iran nach Deutschland kam. Dardan sei von ihrem Literaturprofessor im Studium zum Semesterende gefragt worden: "Und? Wie ist es im Orient?" Dardans Besorgnis mit Blick auf ihren älteren Sohn, der wie sie und anders als sein schwedischer Vater dunkle Haare und dunkle Augen habe: "dass er einmal nicht selbst wird entscheiden können, wie er wahrgenommen werden will, weil Klischees und Stereotypien das für ihn übernehmen werden".

"Wir sind hier" – ein notwendiges Festival, dem sehr zu wünschen ist, dass es im kommenden Jahr ein drittes Mal wird stattfinden können. Damit das "Wir" Zuwachs bekommt.