1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

"Wir hallen in den öffentlichen Raum hinein"

9. April 2021
Nicola Bardola

2021 ist das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland": Ein Gespräch mit Rachel Salamander von der Münchner Literaturhandlung über die Situation der Bücher zum Thema Judentum.

Sehen Sie das Aktionsjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" als eine Chance?
Ich war an der Genese des Aktionsjahrs beteiligt; es gab einen Beirat, der frühzeitig die Themen für das "Festjahr 2021" besprochen hat. Unter dem Namen "#2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland" waren bundesweit rund tausend Veranstaltungen geplant, darunter Konzerte, Ausstellungen, Musik, ein Podcast, Video-Projekte, Theater, Filme. Die Pandemie verhindert nun einige Initiativen, aber das Ziel des Festjahres bleibt, jüdisches Leben sichtbar und erlebbar zu machen und dem erstarkenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen.

Wo sind die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen den Aktivitäten ihrer Literaturhandlung mit acht Filialen und denen des Aktionsjahres?
Am Programm des Aktionsjahres bin ich nicht direkt beteiligt. Das liegt auch daran, dass die Literaturhandlung in Berlin in diesem Jahr ihren 30. Geburtstag feiert, ihren 40. dann nächstes Jahr in München. Was ich damit sagen will: Seit die Literaturhandlung existiert, kümmern wir uns genau um die Themen, um die es jetzt im Aktionsjahr geht. Das Anliegen der Literaturhandlung ist es, von Beginn an dem Jüdischen in der nichtjüdischen Öffentlichkeit Präsenz zu geben. Daran arbeite ich seit 40 Jahren in vielen Formen. Seither hallen wir in den öffentlichen Raum hinein, versuchen aufzuklären und entsprechende Literatur bekannt zu machen. In diesen 40 Jahren haben wir landauf landab weit über 1.000 Veranstaltungen durchgeführt. Insofern sind wir eigentlich Vorreiter dieser Absichten, die nun 2021 im großen Rahmen umgesetzt werden.

Die Ziele sind dieselben?
Wir wollen gemeinsam im Gespräch sein: Wir wollen Juden und Nichtjuden zusammenbringen und über alles reden, über Vergangenes, Zerstörtes, aber auch über das Kommende und wie wir Kriterien dafür herausbilden können, wie wir gemeinsam leben wollen.

Welche Rolle spielen dabei Ihre Buchhandlungen?
Was die Buchlandschaft betrifft, sind wir gut strukturiert: Wir haben einen guten Überblick über die Marktentwicklung. In unserem Sortiment befinden sich über 18.000 Titel. Nachdem wir bis auf dieses Jahr jährlich einen Katalog zur Literatur zum Judentum herausgeben, wissen wir, was jeweils wo erscheint.

Der Name Ihrer neun Buchhandlungen - "Literaturhandlung" - weist nicht direkt darauf hin.
Der Begriff "Literatur zum Judentum" ist mir sehr wichtig. "Jüdische Buchhandlung" – was wäre das? In der Literaturhandlung spielt das Thema die Hauptrolle, nicht die Herkunft. Alle diejenigen, die sich mit dem Thema Judentum beschäftigen, finden bei uns ihren Platz. Deshalb sind auch viele nichtjüdische Autoren vertreten. Das ist ganz wichtig: Wenn Sie sich die Regionalgeschichte anschauen, die in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden ist, sind es oft nichtjüdische Autoren, die sich um die jüdische Geschichte kümmern.

Wie war die Stimmung in Deutschland, als Sie vor bald 40 Jahren die Literaturhandlung in München eröffneten?
Wenn ich an die Anfänge denke: Damals hat sich kaum ein Nichtjude getraut, das Wort Jude in den Mund zu nehmen. Die Literaturhandlung war quasi die erste Anlaufstelle. Es gab kaum Aktivitäten in der Öffentlichkeit. In der Literaturhandlung entstand ein Forum des Austauschs und der Information und ich bin jetzt froh, dass wir die Staffel weitergeben konnten und nicht alles auf unseren Schultern lastet.

Wer sind Ihre Kunden?
Wir müssen unterscheiden zwischen zwei Zielgruppen: zum einen die jüdischen Kunden aus den jüdischen Gemeinschaften, die im Nachkriegsdeutschland von ihren Traditionen abgeschnitten waren. Es gab bis spät in die 1980er Jahre kaum Literatur auf dem Markt. Ich habe vor 40 Jahren damit angefangen, relevante Texte von überall her, Israel, Amerika, England u.s.w. mühsam zusammenzutragen und zu bibliographieren, um die jüdischen Haushalte mit dem Nötigsten für die traditionelle Praxis zu versorgen. Dieser Prozess wiederholte sich mit der Einwanderung der Kontingentflüchtlinge und den Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die sich ihrerseits wieder mit traditioneller Literatur ausstatten mussten.

Zum anderen die nichtjüdischen Leser, die sich für jüdische Themen interessierten; sie näherten sich dem Judentum mit anderer Literatur, jeder kann und konnte seinen eigenen Zugang wählen, mit Kinderbüchern über Romane bis hin zur Zeitgeschichte. Bei den Lesern, die uns seit 40 Jahren begleiten, stelle ich eine enorme Entwicklung fest. Bildungspolitisch ist viel passiert. Die anfängliche Befangenheit ist gewichen. Uns konnte nichts Besseres passieren, als dass wir zu einer Art Selbstverständlichkeit geworden sind. Für Schüler und Studenten heute ist es selbstverständlich, dass eine solche Fachbuchhandlung existiert. Die können sich gar nicht mehr vorstellen, dass wir einmal als Pioniere angefangen, alles zusammengetragen haben, was sich in Schrift und Wort über das Judentum ausfindig machen ließ.  

Wie entwickelt sich da der Buchmarkt aus Ihrer Sicht?
Das Aufkommen der Literatur zum Judentum bewegt sich kontinuierlich linear. Ich verzeichne jetzt allerdings, dass die Übersetzungen aus dem Hebräischen abnehmen. In den 1990er- und 2000er Jahren erschienen viel mehr Übersetzungen. Die Vielstimmigkeit der Literatur aus Israel hat merklich abgenommen. Es gibt keine Mirjam Pressler, keinen Amos Oz mehr: Die Verlage investieren nicht mehr so viel in israelische Literatur.

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