Unerwartete Wendungen
Beim Sichten der Verlagsprogramme fallen
die zahlreichen Spielarten des Kriminalromans ins Auge. Nicht selten sind sie von großen Vorbildern inspiriert. Eine aktuelle Auswahl.
Beim Sichten der Verlagsprogramme fallen
die zahlreichen Spielarten des Kriminalromans ins Auge. Nicht selten sind sie von großen Vorbildern inspiriert. Eine aktuelle Auswahl.
Kriminalromane, die mit einem großen Vorbild spielen, riskieren, dass sie ihm nicht standhalten. Es gibt Autoren, die etwa in die Fußstapfen von Arthur Conan Doyle treten und den Abenteuern um Sherlock Holmes neue hinzufügen. Sie machen das nicht selten mit einer Begabung, die an gute Kopisten erinnert. Wie diese erreichen auch sie das Original nie.
Bei dem argentinischen Autor und Mathematiker Guillermo Martínez liegen die Dinge anders. Hier entwirft jemand Plots, die nicht einer Holmes-Erzählung nachempfunden, sondern von ihrem Geist inspiriert sind. In seinem zweiten Roman »Der Fall Alice im Wunderland« (Eichborn, 315 S., 16 Euro) schildert er eine Mordserie, die sich im Umfeld der Oxforder Lewis-Carroll-Bruderschaft abspielt. Das Mordmotiv scheint mit dem Fund eines Zettels zusammenzuhängen, der die Deutung des erzählerischen Werks Lewis Carrolls, aber auch seine Vorliebe für junge Mädchen in einem vollkommen neuen Licht erscheinen lassen könnte.
Als die junge Forscherin Kristen Hill, die den Zettel an sich genommen hatte, eines Nachts Opfer einer Auto-Attacke wird, machen sich ihr früherer Doktorvater Arthur Seldom und sein argentinischer Doktorand (der Ich-Erzähler) auf die Suche nach dem Täter. Nach einer Sondersitzung der Bruderschaft gibt es ein erstes Todesopfer – den Verleger Leonard Hinch, der Fotografien aus dem 19. Jahrhundert sammelt. Martínez spielt virtuos mit Versatzstücken aus dem Alice-Kosmos, verschmilzt die Romanhandlung mit der viktorianischen Welt Carrolls und gibt dem Fall zugleich eine überraschend aktuelle Wendung. Der erste Kriminalroman des Argentiniers liegt ebenfalls auf Deutsch vor, auch bei Eichborn: »Die Oxford-Morde« (221 S., 14 Euro).
Max Annas, in der Bundesrepublik geboren, hat sich in den 80er Jahren gründlich in der DDR umgesehen. Aus dieser Erfahrung resultiert auch sein Projekt »Morduntersuchungskommission« – die ersten beiden Bände sind kürzlich bei Rowohlt Hundert Augen erschienen. In dem Roman »Der Fall Nikoleit«, der dem 1981 in Stasi-U-Haft unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommenen Regimegegner Matthias Domaschk gewidmet ist und im Jahr 1985 in Jena spielt, geht es um den Mord an dem 19-jährigen Melchior Nikoleit. Der Automechanikerlehrling und Bassist einer vierköpfigen Punkband entpuppt sich nach seinem Tod als informeller Mitarbeiter der Stasi und war zudem in eine Einbruchserie verwickelt. Oberleutnant Otto Castorp, der manchmal zu tief ins Wodkaglas schaut, nimmt sich gemeinsam mit seinen Ermittlern den Vater des Opfers vor – einen Antiquitätenhändler mit Westkontakten, der unter Beobachtung steht. Annas fängt in seinem Roman das gesellschaftliche Klima der späten DDR ein – eine Atmosphäre des Misstrauens und der gelebten Schizophrenie, welche die Protagonisten permanent in Konflikte stürzt.
Im Osten der Republik, auf einer fiktiven Ostseeinsel Mitte der 90er Jahre, spielt auch Karsten Stegemanns Kriminalroman »Niewetow« (Edition Nautilus, 176 S., 16 Euro). Schon auf der Fähre nach Niewetow begegnet dem angehenden Lokaljournalisten Daniel Brandenburg der Tod: in Gestalt eines Mannes, der hinter ihm Platz nimmt, den er stöhnen und rufen hört: »Das Ende ist einsam!« Als Brandenburg sich umdreht, ist der Mann verschwunden. Ein Gespenst, ein Zombie – oder eine böse Vorahnung?
Nur wenig später, der Journalist kehrt gerade in sein Zimmer zurück, das er in einer ehemaligen NVA-Kaserne angemietet hat, entdeckt er im Hafenbecken eine Wasserleiche, die in einem versunkenen Bauwagen treibt. Der Fund ist Auftakt einer Todesserie, hinter der Brandenburg einen Mörder vermutet – im Gegensatz zum ermittelnden Kommissar Edgar Krummnow, der an Unfälle glaubt. Karsten Stegemanns Buch ist ein Remake von Ray Bradburys Mysteryroman »Der Tod ist ein einsames Geschäft« (1985), der Ende der 40er Jahre im Küstenort Venice (Los Angeles) spielt.
Peter Hennings bereits im Frühjahr erschienener Roman »Die Tote von Sant Andreu« (Transit, 176 S., 20 Euro) entfaltet mit seiner Kriminalhandlung zugleich eine Beziehungsgeschichte – die von Lennart Halm, Professor für Kreatives Schreiben, und seiner Zwillingsschwester Luise, die in Barcelona lebt. Als Luise bei einem islamistischen Terroranschlag in der U-Bahn-Station Onze de Setembre (»11. September«) ums Leben kommt, fliegt Lennart in die katalanische Hauptstadt, um etwas über die Todesumstände zu erfahren.
Im Flugzeug lernt er die Studentin Anne Forsberg kennen, die ihm bei seinen privaten Nachforschungen hilft. Halm wird durch Äußerungen des ermittelnden Inspectors Aranda verunsichert, die das Bild seiner Schwester zu trüben drohen. Als durch einen Zufall die vergilbte Fotografie einer verschleierten Frau auftaucht, geraten Halms Annahmen über das Leben seiner Schwester vollends ins Wanken. Die Stärke des Buchs liegt in der Schilderung der psychischen Konstellation, die dem Fall eine andere Dimension gibt.
Nach dem großen Erfolg seines ersten Archäologie-Krimis »Hochamt in Neapel« (C. H. Beck, 365 S., 19,95 Euro) hat der Verlag, in dem Stefan von der Lahr seit über 25 Jahren als Lektor arbeitet, seinen bereits vor fünf Jahren im Verlag Antike erschienenen Roman »Das Grab der Jungfrau« in neuer Bearbeitung herausgebracht – in der nicht unberechtigten Hoffnung, mehr Leser zu erreichen (C. H. Beck, 400 S., 19,95 Euro). Rom, so die kühne Ausgangssituation, steht vor dem Dritten Vatikanischen Konzil, das der erste afrikanische Papst seit 1 500 Jahren (Laurentius) einberufen hat. Da wühlt ein Papyrus aus den ersten Tagen der Kirche, das Forscher in Berkeley aufgespürt haben, den Klerus auf. Es handelt sich um ein Fragment, zu dem in den Vatikanischen Bibliotheken ein Ergänzungsstück existiert. Zusammengesetzt könnten beide Teile eine Ortsbeschreibung des Grabs der Jungfrau Maria enthalten. Als der Altertumswissenschaftler William Oakbridge in Rom nachforschen will, ruft er mächtige Gegner auf den Plan.
Zum Schluss sei noch die Neuübersetzung eines der größten Kriminalromane des 20. Jahrhunderts empfohlen: »Der Malteser Falke« von Dashiell Hammett. 1930 erstmals erschienen, hat ihn die Übersetzerin pociao jetzt für Kampa neu übertragen (September, ca. 288 S., ca. 22 Euro). Privatdetektiv Sam Spade, für viele eine Art amerikanischer Holmes, ermittelt in einem Fall von Bestechung und Mord – auf der Suche nach einer juwelenbestückten Falkenskulptur.
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