SWR-Literaturchef Frank Hertweck zu Schecks Anti-Kanon

"Wir wollten den 'Literaturpapst' ironisch auf die Spitze treiben"

20. Juli 2021
Sabine van Endert

Am Ende gelte leider die alte Weisheit: "Ironie und Fernsehen bzw. Video gehen nicht zusammen", sagt Frank Hertweck, Literaturchef des SWR und damit verantwortlich für "Schecks Anti-Kanon". Welche Idee hinter dem Format stand und welche Folgen der SWR jetzt aus der Kritik zieht, erklärt Hertweck im Interview. 

Kurz zum Rahmen: Wann ist der erste Clip online gegangen, in welchem Rhythmus geht es weiter?
Die ersten vier Clips gingen gleichzeitig Ende Juni online. Im Augenblick haben wir eine Sommerpause, im September wollen wir weitere produzieren. 

Wie sind die Abrufzahlen der Clip-Reihe für „Schecks Anti-Kanon“?
Die meisten Klicks hatte das Stück über Christa Wolfs „Kassandra", ca. 3.300, die wenigsten das über Sebastian Fitzeks "Passagier 23", nämlich knapp 1.400. Interessanterweise sind die Werte bisher höher als beim Kanon, den Denis Scheck zuvor aufgelegt hatte, dort hatten wir im Schnitt 1.300 Abrufe. 

Drei Sätze zur Idee: Was soll das Format leisten? 
Ganz klassisch: „prodesse et delectare“. Es ist teilweise „Erinnerungsfernsehen“, ohne nostalgisch zu sein. Es erinnert daran, was wir alle mal gelesen und für gut befunden haben, wie Latzhosen oder Schulterpolster. Das wird jetzt kritisch überprüft: Beispiel Svende Merian und Christa Wolf. Oder es werden mehr oder weniger große Namen der Literaturgeschichte wiedergelesen, siehe Stefan George, siehe Johannes R. Becher. Scheck sichtet kritisch erfolgreiche Gegenwartsbelletristik und er erinnert daran, was Bücher auch sein können, nämlich Ausgangspunkte großen Unheils. Was das Format darüber hinaus leistet, ist der Versuch, verschiedene Kriterien des Misslungenen, des Schlechten, zu liefern. Keiner der einzelnen Verrisse analysiert nur ein Buch, sondern entwickelt  gleichzeitig  eine Theorie des Schlechten in progress. Und, Stichwort Unterhaltung, die Texte sind scharfzüngig und mit viel Esprit formuliert. 

Wer hat sich die Animation ausgedacht? 
Die Animation stand am Ende eines Diskussionsprozesses um das Setting. Die Idee war, der Diskursposition Denis Schecks, ich bin der, der über gute und schlechte Bücher entscheidet, einen satirischen Kommentar beizugeben durch die Art der optischen Gestaltung - wir wollten den „Literaturpapst“ ironisch auf die Spitze treiben. Und da Denis Scheck ein großer Science Fiction-Fan ist, haben wir eine Atmosphäre geschaffen, die einige Filme zitiert oder andeutet, Stanley Kubricks „2001 Odyssee“, „Star Wars“, „Bruce Allmächtig“, Avenger-Filme. In diesem Kontext ist die Animation dann gar nicht mehr so überraschend.

Der gottgleiche Literaturkritiker, der mit einem Augenzwinkern Bücher ins Jenseits befördert. Gab es auch positive Resonanz?
Ich kann sagen, dass dieses Verhältnis Text und optische Kommentierung von den ersten Zuschauern intern und im Kulturausschuss des Rundfunkrats, der das Stück über Paulo Coelho gesehen hat, auch wahrgenommen wurde. Aber am Ende gilt leider die alte Weisheit, Ironie und Fernsehen bzw. Video gehen nicht zusammen. Und ich musste feststellen, viele Rezipienten glauben wirklich, Denis Scheck würde sich für einen Literaturgott halten. Dem ist nicht so. 

Schlecht verständlich war offenbar, dass die ausgemusterten Bücher in keinem weiteren Zusammenhang stehen sollen. Stehen sie dann nicht in jedem Fall zumindest in einer Reihe? 
Darauf muss man bestehen: ein Nebeneinanderstehen ist noch kein Vergleich. In einem alphabetisch sortierten Bücherregal können Paul Celan und Céline miteinander in Berührung kommen. Nirgends wird von einem Vergleich gesprochen, in keinem Verriss wird auf einen anderen verwiesen. Entscheidend ist, so wie in Dantes Inferno alle Verurteilten ihre eigene, individuelle, ganz unvergleichliche Strafe bekommen, sind im Anti-Kanon alle Bücher (aus der Perspektive von Denis Scheck natürlich) schlecht auf ihre je eigenen Weise. Darum entwickelt Denis Scheck, wie schon angedeutet, in jedem Verriss neue Kriterien, wie mörderische Auswirkungen, Gewaltpornographie, Moralisierung von Literatur, Ideologisierung von Literatur usw. 

Rauch und Feuer – da liegt die Assoziation Bücherverbrennung nah. Bücher sollten nicht brennen. Warum konnte der Eindruck entstehen? 
Weil die narrativen Kontexte, in denen Bilder stehen, ausgeblendet werden. Wer sich in der Geschichte des Nationalsozialismus  auskennt, in der NS-Literaturpolitik, der weiß, dass die Bücherverbrennung der Auftakt war für einen dann stärker institutionalisierten und individualisierten Prozess des Verbots und der Zensur von Büchern, aber eben auch der Inhaftierung von Kulturschaffenden, ihrer Vertreibung. Diese faschistische Kulturpolitik mit all ihren mörderischen Konsequenzen  kann man nicht ernsthaft mit einem technischen Gimmick am Ende eines ironischen Settings in eins setzen. Ich sehe die Gefahr, dass man beim Skandalisieren der einen Seite des Vergleichs die andere Seite eher verharmlost und plädiere mit Alexander Kluge für die Kunst, Unterschiede zu machen. 

„Mein Kampf“ wurde offline gestellt – gerade da wurde die Analogie zum Brennen von manchen verstanden…. Warum also? 
Weil uns vorgeworfen wurde, x, y, z in mehr als nur eine visuelle Nähe zu Hitler zu bringen. Auch wenn wir erst mit der Zeit gemerkt haben, was man im Detail missverstehen kann, und auch wenn ich die Gegenpositionen nicht teile, so heißt es doch nicht, dass wir die Resonanz ignorieren wollen.

Insgesamt soll das Format nach der Kritik überarbeitet werden. Gibt es schon Ideen?
Wir haben uns entschieden, zwei Punkte zu korrigieren: Wir werden die Animation überarbeiten, wie, steht noch nicht fest. Und wir haben die Analyse von Hitlers „Mein Kampf“ offline gestellt, denn um den ging es ja immer bei den Vergleichsvorwürfen. „Hitler und …“, diese Assoziation wollen wir nachdrücklich vermeiden. Ich bedaure es wirklich, dass das Provokative, aber auch Analytische, das dieser Anti-Kanon bietet, durch die beiden Vergleichsdebatten etwas untergegangen ist.