Welche neuen Akzente wollen Sie in der Anderen Bibliothek setzen?
Rainer Wieland: Wir möchten an die Anfangszeiten der AB anknüpfen, in der der Horizont weit aufgespannt war, über alle Genres, Epochen und Kulturräume hinweg. Bücher, die uns bewegen, "Lebenszeichen", wie Hans Magnus Enzensberger das genannt hat. Im Herbst haben wir u.a. einen Roman der deutsch-jüdischen Autorin Klara Blum, eine kämpferische Liebes- und Lebensgeschichte …
Julia Franck: … norwegische Märchen, Erzählungen der wiederentdeckten Willa Cather, und AB-Bestsellerautor Asfa Wossen Asserate geht in einem persönlichen Buch deutschen Eigenheiten auf den Grund. Besonders freue ich mich über einen frühen Roman von Arnon Grünberg, glänzend geschrieben, ein rabenschwarzer Blick in menschliche Abgründe.
Wieland: Insgesamt wollen wir mehr jüngere Schriftsteller:innen und einen größeren Anteil an Frauen – es gibt noch viele Schätze heute vergessener Autorinnen, die wir heben wollen ...
Franck: Je weiter man zeitlich zurückgeht, desto weniger weibliche literarische Zeugnisse sind vorhanden, das Schreiben war von Männern dominiert – aber es gab auch schon vor 200 Jahren fantastische Tagebuch- und Briefeschreiberinnen.
Seit gut einem Jahr stößt man in Belletristikprogrammen auffällig oft auf vergessene Autorinnen …
Franck: Viele versuchen gerade, ihre Gabriele Tergit zu entdecken; allerdings ist es ja nicht so, als würde man auf den Marktplatz gehen und mitnehmen, was gefällt – man muss sehr intensiv suchen. Aber wenn man gräbt, macht man auch wunderbare Entdeckungen. "Zeit der Fehler" von Mohamed Choukri ist so ein Titel im September: Weltliteratur eines marokkanischen Autors, der als Sohn eines Berber-Bauern erst mit 21 Jahren im Gefängnis lesen und schreiben gelernt hat.
Wieland: Der Unterschied zu anderen Programmen ist: Wir sind kein Hausverlag für Autoren, deren Gesamtwerk wir pflegen. Jeder Titel steht in der AB für sich, auch optisch als Solitär gestaltet – in der Gesamtheit fügen sie sich zu einer Bibliothek.
Wer bringt von Ihnen welche Ideen ins AB-Programm ein?
Franck: Jeder von uns hat bestimmte Kenntnisse und Vorlieben. Ich kann zum Beispiel spanischsprachige Literatur im Original lesen, also schaue ich mich dort um. Ich lese auf Französisch und Englisch Titel aus dem asiatischen Sprachraum. Die Konkurrenz ist groß, viele Autorinnen werden inzwischen über große literarische Agenturen vermittelt.
Wieland: Ich bin ja seit fast 20 Jahren im Verlagsgewerbe, unter Enzensberger und Greno viele Jahre als Lektor der AB, da sind viele Kontakte entstanden, Autoren, die ich bis heute begleite. Julia hat einen sehr breiten literarischen Horizont und ist eng mit Schriftstellerinnen vernetzt; sie hat etwa Terézia Mora gefragt, welchen Titel sie gerne einmal aus dem Ungarischen übersetzen würde, und so hat sie für uns einen jungen ungarischen Autor fürs Frühjahrsprogramm 2024 entdeckt.
Prüfen Sie beide jeden Titel gemeinsam?
Franck: Wenn uns Manuskripte angeboten werden, liest einer von uns schon mal los; wenn er begeistert ist, steigt der andere ein.
Ist es bei Entscheidungen schon zu Pattsituationen gekommen?
Franck: Es müssen Titel sein, die uns beide begeistern. Der zündende Moment ist für uns das direkte Gespräch …
Wieland: … Wir sind anfangs über drei Stunden über den ruhigen Kreuzberger Friedhof gelaufen und haben geredet, uns ausgetauscht und rasch gemerkt, was geht und was nicht.
Franck: Rainer hat ja große Lektoratserfahrung, ich lerne von ihm, was schwierig ist … Ich hatte zum Beispiel ein zeitgenössisches Lyrikprojekt vorgeschlagen, wo Rainer meinte, ein solcher Band hätte in der AB wenig Chancen.
Aber Lyrik gehört unbedingt in die AB!
Franck: Da sind wir uns einig. Wir bereiten auch gerade einen großen Lyrik-Band vor, ein Stück Welt-Literatur, neu übersetzt. Solche Projekte brauchen aber ihre Zeit.
Welche Grenzen sind denn von außen gesetzt?
Franck: Bei großen Auktionen würden wir mit unserem Budget nicht mithalten können – da hat sich der Markt durch literarische Agenturen sehr verändert. Wir segeln in abgelegenen Gewässern und fischen dort.
Wieland: Der Umfang setzt eine Grenze: Herstellungsbedingt kann ein Band zwischen 240 und 500 Seiten haben. Größere Projekte können wir, abseits der monatlichen Folge, als Sonderbände realisieren.
Wie hoch ist die Zahl der Abonnenten?
Wieland: Rund 1700 Abonnentinnen halten der Reihe bis heute die Treue, das ist nicht so viel wie zu Enzenbergers Glanzzeiten, aber ein garantierter Absatz, den andere so nicht haben. Das sehen wir als gute Grundlage – und als Verpflichtung, ein vielfältiges Programm zu komponieren – eine Bibliothek für wache und kritische Leser.