Schwedische Akademie hat entschieden

Literaturnobelpreis 2024 geht an Han Kang

10. Oktober 2024
Redaktion Börsenblatt

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, als der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie die Flügeltür des Blauen Salons öffnete und an die Mikrofone schritt: "Den Literaturnobelpreis 2024 erhält die südkoreanische Autorin Han Kang", verkündete Mats Malm in Stockholm. Erstmals geht der Preis damit in das ostasiatische Land. Update: Statement der Aufbau Verlage, wo die deutschen Ausgaben erscheinen.

Han Kang

Der Literaturnobelpreis 2024 wird verliehen an Han Kang 'für ihre intensive poetische Prosa, die sich mit historischen Traumata auseinandersetzt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens aufzeigt'

Auf der Nobelpreis-Website

Innovation der zeitgenössischen Prosa

Den Namen verkündete Mats Malm, der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, vor der gespannten Presseschar im Saal und den nicht minder gefesselten Zuschauer:innen des Livestreams (das zeigte deren Chat neben dem Stream auf YouTube). Malm sagte, er hätte bereits mit der überraschten Han Kang telefoniert, die gerade mit ihrem Sohn das Abendbrot beendet hatte. 

Die südkoreanische Autorin Han Kang wird "für ihre intensive poetische Prosa, die sich mit historischen Traumata auseinandersetzt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens offenlegt", heißt es in der Begründung.

In ihrem Werk beschäftige sich Han Kang mit historischen Traumata und unsichtbaren Regelwerken und zeige die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens auf, heißt es weiter. Sie habe ein einzigartiges Gespür für die Verbindungen zwischen Körper und Seele, Lebenden und Toten und sei mit ihrem poetischen und experimentellen Stil zu einer Innovatorin der zeitgenössischen Prosa geworden.

  • Das Video der Bekanntgabe kann noch angeschaut werden: hier

Biografisches: Das Leben ist wie ein Tuch

Han Kang wurde 1970 in der südkoreanischen Stadt Gwangju geboren, bevor sie im Alter von neun Jahren mit ihrer Familie nach Seoul zog. Sie stammt aus einem literarischen Umfeld, da ihr Vater ein bekannter Romanautor ist. Neben dem Schreiben widmet sie sich auch der Kunst und der Musik, was sich in ihrem gesamten literarischen Schaffen widerspiegelt, wie Anders Olsson, Chair des Nobel Committees, ausführte.

1993 veröffentlichte sie eine Reihe von Gedichten in der Zeitschrift "Literatur und Gesellschaft“. Ihr Prosadebüt gab sie 1995 mit der Kurzgeschichtensammlung "Love of Yeosu", der bald darauf mehrere weitere Prosawerke, sowohl Romane als auch Kurzgeschichten, folgten.

Besonders hervorzuheben sei der Roman "Deine kalten Hände" (2002), der deutliche Spuren von Han Kangs Interesse an der Kunst aufweise. Das Buch reproduziert ein Manuskript, das ein verschwundener Bildhauer hinterlassen hat, der davon besessen ist, Gipsabdrücke von Frauenkörpern herzustellen. Es geht um die menschliche Anatomie und das Spiel zwischen Persona und Erfahrung, wobei in der Arbeit des Bildhauers ein Konflikt zwischen dem, was der Körper offenbart, und dem, was er verbirgt, entstehe. "Das Leben ist ein Tuch, das sich über einen Abgrund wölbt, und wir leben darüber wie maskierte Akrobaten", zitierte Olsson einen Satz am Ende des Buches.

Der internationale Durchbruch

Der große internationale Durchbruch gelang Han Kang mit dem Roman "The Vegetarian" (2015; Originalausgabe 2007, auf Deutsch: "Die Vegetarierin"). Protagonistin Yeong-Hye verweigert sich den Normen der Nahrungsaufnahme und will kein Fleisch mehr essen.

Sowohl ihr Ehemann als auch ihr autoritärer Vater reagieren darauf gewalttätig. Ihr Schwager, ein Videokünstler, der von ihrem passiven Körper besessen ist, beutet sie zudem erotisch und ästhetisch aus. Schließlich wird sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo ihre Schwester versucht, sie zu retten. Doch Yeong-Hye versinkt immer tiefer in einen psychoseähnlichen Zustand. Für das Buch wurde Han Kang 2016 mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet.

Im Roman "Human Acts" (2016; Originalausgabe 2014, auf Deutsch: "Menschenwerk") nimmt Han Kang ein historisches Ereignis als Grundlage, das sich in der Stadt Gwangju zugetragen hat, in der sie selbst aufgewachsen ist. 1980 wurden dort bei einem Massaker des südkoreanischen Militärs Hunderte von Studenten und unbewaffneten Zivilisten ermordet. Olsson verwies auf den besonderen Kunstgriff von Han Kang, die Seelen der Toten von ihren Körpern zu trennen und sie so Zeugen ihrer eigenen Vernichtung werden zu lassen. Den Titel empfahl Ann-Katrin Palm vom Nobel Committee in einem kurzen Interview, das am Ende übertragen wurde, als Einstiegslektüre.

Die Bücher von Han Kang

"Die vielleicht leiseste Liebesgeschichte der Welt": Das schrieb "Die Zeit" über den jüngsten Roman von Han Kang, der im Februar unter dem Titel "Griechischstunden" bei Aufbau erschienen ist.

In einem Klassenzimmer in Seoul beobachtet eine junge Frau ihren Griechischlehrer. Sie versucht, zu sprechen, aber sie hat ihre Stimme verloren. Ihr Lehrer fühlt sich zu der stummen Frau hingezogen, denn er verliert von Tag zu Tag mehr von seinem Augenlicht. Bald entdecken die beiden, dass ein tiefer Schmerz sie verbindet.

"Ein Meisterwerk": So lobte die FAZ den Roman "Die Vegetarierin", der 2016 den Man Booker Prize bekommen hat und bei Aufbau als Taschenbuch und als Geschenkausgabe vorliegt.

Yeong-Hye ist eine pflichtbewusste Hausfrau, ihr Ehemann geht beflissen seinem Bürojob nach. Die angenehme Eintönigkeit ihrer Ehe wird jäh gefährdet, als die Frau beschließt, sich fortan ausschließlich vegetarisch zu ernähren und alle tierischen Produkte aus dem Haushalt entfernt.

Bibliografie der deutschen Ausgaben:

Alles in allem sind fünf Titel der Nobelpreisträgerin bei Aufbau herausgekommen. Vier davon hat Ki-Hyang Lee ins Deutsche übertragen, im Frühjahr mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzungen ausgezeichnet (für Bora Chung: "Der Fluch des Hasen", CulturBooks).

Im Aufbau Verlag sind von Han Kang erschienen und lieferbar:

  • "Die Vegetarierin"
    Ü: Ki-Hyang Lee, Aufbau Taschenbuch, 2017, 190 S., 12 Euro,
    seit 2020 auch als Geschenkausgabe im Hardcoverformat lieferbar, mit farbigem Vorsatzpapier und Lesebändchen, 250 S., 12 Euro
  • "Menschenwerk"
    Ü: Ki-Hyang Lee, Aufbau Taschenbuch, 2019, 222 S., 12 Euro
  • "Deine kalten Hände"
    Ü: Kyong-Hae Flügel, Aufbau Taschenbuch, 2020, 312 S., 12 Euro
  • "Weiß"
    Ü: Ki-Hyang Lee, Aufbau Hardcover, 2020, 151. S., 20 Euro
  • "Griechischstunden"
    Ü: Ki-Hyang Lee, 2024, 204 S., 23 Euro

Wir freuen uns über alle Maßen und können es noch gar nicht richtig glauben: Han Kang erhält den diesjährigen Literaturnobelpreis.

Facebook-Account der Aufbau Verlage

Aufbau: "Die Telefone stehen nicht mehr still"

"Die Sektkorken knallen und die Telefone stehen nicht mehr still – deshalb: entschuldigen Sie bitte die späte Rückmeldung", melden sich die Aufbau Verlage gegen 18 Uhr per Mail auf die Anfrage von Börsenblatt online. Verständlich. "Wir lassen nachdrucken", so eine Sprecherin, "wir machen auf jeden Fall einen Vermerk auf dem Cover und passen unseren Aufbau-Stand für die Frankfurter Buchmesse entsprechend an." Zur Buchmesse komme Han Kang leider nicht. Aufbau habe "Unmöglicher Abschied" von Han Kang in Kürze im Programm – der genaue ET werde bald bekannt gegeben.

"Wir gratulieren unserer Autorin Han Kang von ganzem Herzen zu dieser herausragenden Anerkennung für ihr literarisches Werk", sagt Heide Kloth, Verlegerin der Aufbau Verlage in einer Pressemitteilung. "Wir sind stolz, eine der außergewöhnlichsten Stimmen der Weltliteratur verlegen zu dürfen."

Programmleiterin Friederike Schilbach ergänzt: "Han Kang gelingt es, die gewaltigsten Themen durch ihre poetische Sprache erzählbar zu machen. Das Zärtliche verbindet sie mit dem Revolutionären und schafft so Literatur, die nur sie so schreiben kann."

Preisverleihung:

Das Preisgeld beträgt seit 2023 11 Millionen Schwedische Kronen (rund 968.000 Euro), eine Million mehr als in den Jahren davor. Die Auszeichnung wird am Nobelpreistag, den 10. Dezember, von Schwedens König Carl XVI. Gustaf in der Stockholmer Konzerthalle überreicht.

Wie wird der Literaturnobelpreis vergeben?

Schriftliche Vorschläge für den Preisträger, die Preisträgerin des Jahres müssen bis zum 31. Januar beim Nobel Committee der Schwedischen Akademie eingehen. Einem Vorschlag sollte eine Begründung beigefügt werden, muss aber nicht. Es ist nicht möglich, sich selbst als Kandidat oder Kandidatin vorzuschlagen, d. h. man kann sich nicht um den Nobelpreis bewerben. In der Regel gibt es jedes Jahr etwa 350 Vorschläge. Dem Nobel Committee 2024 gehören an: Anders Olsson (chair), Ellen Mattson, Steve Sem-Sandberg, Anne Swärd und Ann-Katrin Palm sowie als assoziiertes Mitglied Mats Malm (Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie).

Im Frühjahr prüft das Nobel Committee die Vorschläge und legt der Schwedischen Akademie im April eine vorläufige Kandidatenliste mit etwa 20 Namen zur Genehmigung vor. Vor der Sommerpause der Akademie wird die Liste in der Regel auf etwa fünf Namen reduziert. Im Oktober trifft die Akademie dann ihre Wahl. Damit die Wahl gültig ist, muss ein Kandidat / eine Kandidatin mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen der Schwedischen Akademie erhalten.

Die Schwedische Akademie hat 18 Mitglieder. Zur Liste der Akademie-Mitglieder geht es: hier.

Zahlen zum Literaturnobelpreis:

  • 117 Auszeichnungen wurden von 1901 bis 2024 vergeben. Siebenmal gab es keinen Literaturnobelpreis: 1914, 1918, 1935, 1940–1943. 2018 wurde die Preisvergabe ausgesetzt, ein Jahr später dann aber nachgeholt.
  • 4 Mal gab es zwei Preisträger*innen: 1904 (Frédéric Mistral, José Echegaray), 1917 (Karl Gjellerup, Henrik Pontoppidan), 1966 (Shmuel Agnon, Nelly Sachs) und 1974 (Eyvind Johnson, Harry Martinson)
  • 120 Personen haben bis 2023 einen Literaturnobelpreis erhalten: Liste der Preisträger:innen
  • 41 Jahre alt war der bislang jüngste Preisträger: Rudyard Kipling, der 1907 ausgezeichnet wurde.
  • 88 Jahre alt war die bislang älteste Preisträgerin: Doris Lessing, die 2007 ausgezeichnet wurde.
  • 18 Frauen erhielten bislang erst den Literaturnobelpreis – als erste Selma Lagerlöf 1909. Auf sie folgten: Grazia Deledda (1926), Sigrid Undset (1928), Pearl Buck (1938), Gabriela Mistral (1945), Nelly Sachs (1966; geteilter Preis, die andere Hälfte ging an Shmuel Yosef Agnon), Nadine Gordimer (1991), Toni Morrison (1993), Wislawa Szymborska (1996), Elfriede Jelinek (2004), Doris Lessing (2007), Herta Müller (2009), Alice Munro (2013), Svetlana Alexievich (2015), Olga Tokarczuk (2018), Louise Glück (2020), Annie Ernaux (2022) und Han Kang (2024).
  • 2 Preisträger haben die Auszeichnung abgelehnt: Boris Pasternak 1958 ("Erst angenommen, dann von den Behörden seines Landes (Sowjetunion) veranlasst, den Preis abzulehnen") und Jean Paul Sartre 1964 (lehnte den Preis ab, weil er konsequent alle offiziellen Ehrungen abgelehnt hat).

(Quelle: https://www.nobelprize.org)