Englischsprachige Literatur

"Jane Austen ist ein TikTok-Phänomen"

21. Dezember 2023
Nicola Bardola

Englischsprachige Literatur im Original zu lesen hat deutlich zugenommen. Nur stimmen Vorannahmen wie "Je jünger die Zielgruppe, desto eher wird sie zum Original greifen" nicht automatisch. "Es hängt auch damit zusammen, woher der Lese-Impuls kommt", meint Thomas Tebbe, Programmleiter Literatur bei Piper, in einem aufschlussreichen Interview.

Thomas Tebbe, Piper

Seit wann macht der Piper Verlag Erfahrungen mit englischsprachiger Literatur in Deutschland?
Schon sehr lange. Vor etwa zehn Jahren gab es bei uns einen besonderen Fall: Anita Shreve wurde von Little, Brown UK auf eine Deutschland-Tour geschickt und es wurden dazu nur die englischsprachigen Ausgaben angeboten. Auf unseren dringenden Wunsch wurden bei den Lesungen auch die deutschen Ausgaben ausgelegt. Das waren damals aber wenige harmlose Beispiele, die vor allem gezeigt haben, dass die Engländer mit ihren Ausgaben auf den deutschen Markt wollten und es anfangs auf ganz traditionelle Weise mit Lesereisen versucht hatten. Doch das war damals schwierig, denn der Vertrieb englischer Bücher in Deutschland war längst nicht so entwickelt wie heute. Inzwischen geht das sehr viel schneller und günstiger als früher.

Sie haben vor 30 Jahren selbst als Buchhändler englischsprachige Bücher verkauft – was hat sich inzwischen beim Export verändert?
Ja, und zwar sehr gerne. Die Geschichte der "export editions" in Deutschland geht einige Jahrzehnte zurück. Früher aber waren sie aufgrund geringer Verkaufszahlen eher unbedeutend. Früher gab es ja nur ein oder zwei Importeure englischsprachiger Bücher. Petersen Buchimport in Hamburg beispielsweise war damals das Nadelöhr, durch das alle englischsprachigen Bücher durch mussten. Das hat sich grundlegend geändert. Das hat mit Vertriebslogistik, mit dem geschärften Bewusstsein englischer Verlage für die Größe des deutschen Marktes zu tun, der sich massiv erweitert hat. Seitdem man englische Originalausgaben genauso schnell erhält wie die deutschen Ausgaben, ist jedenfalls der logistische Vorteil verloren, den wir so lange hatten. Auch verändertes Konsumverhaltens spielt natürlich eine Rolle. Viele jüngere Leser:Innen greifen heute ganz selbstverständlich zu englischsprachigen Ausgaben, wenn sie angeboten werden.

Lässt sich leicht vorhersehen, welche Bücher sich auch abseits der großen Bestseller im Original hierzulande gut verkaufen werden?
Manche Vorannahme könnte täuschen: Je jünger die Zielgruppe für einen Text, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie zur englischsprachigen Ausgabe greift. Sind besonders die jüngeren Stoffe im Original nachgefragt? Literarische Texte sind teilweise hochkomplex und im Englischen für Nicht-Muttersprachler:innen nicht leicht zu verstehen.

Lassen sich leichte Texte in der Unterhaltung im Original besser als anspruchsvolle Literatur verkaufen? Solch allgemeine Schlüsse lassen sich leider aus unseren Beobachtungen nicht ziehen. Dazu gibt es viele Gegenbeispiele. Die Situation in der Literatur ist ausgesprochen divers. Es hängt immer auch damit zusammen, woher der Impuls kommt, bestimmte Bücher zu lesen. Eine Plattform wie TikTok beeinflusst Leseverhalten in Deutschland punktuell sehr stark, und nicht nur im Bereich der Novitäten. Jane Austen ist ein TikTok-Phänomen. Jüngere Frauen kaufen Klassiker, oft auch in hochpreisigen Geschenkausgaben und im Original.

Beliebte Novitäten in den Bereichen Romance und Fantasy werden sehr oft im Original gekauft.
Ja, bei Genreliteratur bemühen sich die kommerziellen Programme sehr darum, zeitgleich mit dem Original zu erscheinen, um nicht zu verschenken, was als englische Ausgabe vorab verkauft werden könnte. Bemerkenswert ist, dass vor allem junge Leser:Innen nicht selten beide Ausgaben kaufen, die englische und die deutsche. Da herrscht eine Art Fandom: Insbesondere die Ausgaben mit den schönen Farbschnitten sind begehrt.

Wie viel wird verschenkt?
Für uns sind die preisgünstigen Export-Ausgaben durchaus ein großes Thema. Wir können natürlich Ladenpreise der Export-Ausgaben nicht vorhersehen. Wir machen unsere Preise, wie sie sich aus der Ausstattung ergeben. Wenn ein Buch im Hardcover 800 Seiten hat inklusive Lesebändchen usw., dann hätten wir gar nicht die Freiheit zu sagen, das Buch kostet 11 Euro. Im ungünstigen Fall kann man zum Erscheinungstermin des teuren deutschen Hardcovers ein preiswertes englisches Taschenbuch kaufen.

Gibt es dafür konkrete Beispiele?
Hanya Yanagiharas "Ein wenig Leben"
ist 2016 bei Hanser erschienen, war dort ein großer Erfolg im Hardcover und ist 2017 bei uns auch sehr erfolgreich im Taschenbuch erschienen. Das Buch hat in den folgenden Jahren immer wieder vor allem in den sozialen Netzwerken neue Impulse bekommen. Bei Hanser wurden gut über 100.000 Exemplare verkauft und bei uns fast die doppelte Menge. Die britische und die amerikanische Ausgabe wurden in Deutschland auch sehr gut verkauft, je circa 50.000 Exemplare. Wir haben also womöglich an diesen "export editions" eine zusätzliche Auflage in sechsstelliger Höhe verloren. Natürlich gibt es auch englischsprachige Leser:innen im deutschsprachigen Raum, die einen solchen Roman nur auf Englisch lesen können oder wollen. Sie hätten ihn wohl nie als deutsche Ausgabe gekauft. Aber wie viele waren das? An dieser Stelle fehlen uns die Informationen.

Wie ließe sich das Problem lösen?
Die Frage ist doch: Wie können wir die möglichen Verluste mindern, indem wir selbst das englische Original verlegen? Natürlich ist die Abstimmung mit den englischsprachigen Agenturen und Verlagen schwierig, aber die Entwicklung muss dahin gehen, dass wir für unser Territorium zu einer Lösung kommen.

Wie könnte eine territoriale Einigung aussehen?
Die große Frage auf der Buchmesse in Frankfurt war dieses Jahr für deutsche, aber auch z.B. niederländische Verlage, die es mit englischsprachiger Literatur zu tun haben: Kann es gelingen, eine englischsprachige Ausgabe unter dem eigenen Label in den jeweiligen Territorien zu veröffentlichen? Davon würden eigentlich fast alle profitieren. Der deutsche Verlag profitiert, weil er keine Konkurrenzpublikationen seiner eigenen Autor:innen fürchten muss, weil er Planungssicherheit hat, auch was die Preisgestaltung betrifft. Der / die Autor:in profitiert, weil seine oder ihre Beteiligung an der englischen Ausgabe in Deutschland anders und höher ist als bei einer englischen Exportausgabe. Die englische Original-Agentur profitiert: Auch ihre ökonomische Beteiligung wird höher ausfallen. Der einzige Beteiligte, der bei diesem Modell nicht profitiert, ist der englische Verlag. Die Frage ist jetzt also: Welches vertragliche Modell finden wir, um allen Seiten gerecht werden zu können?

Vergeht Ihnen inzwischen die Lust an englischsprachiger Literatur?
Aktuell führt die Situation noch nicht dazu, dass literarische Verlage weniger englischsprachige Lizenzen einkaufen. Das ist immer noch Literatur, die hier sehr gefragt ist. Könnten wir selbst entscheiden, ändert sich das Distributionsmodell und nicht die Programmarbeit.

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