Buchwissenschaft

Jan-Pieter Barbian über die Literaturpolitik in der NS-Zeit

18. Juni 2024
Björn Biester

In "Literaturpolitik im NS-Staat" erklärt Jan-Pieter Barbian, wie der Buchmarkt ein entscheidender Pfeiler in der nationalsozialistischen Propaganda wurde. Von der "Gleichschaltung" der Berufsverbände über die Einrichtung der Reichsschrifttumskammer bis zur Zensur. Jetzt hat das Standardwerk eine überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe bekommen. Im Interview erklärt der Germanist, wie es um die Aufarbeitung der Buchhandelsgeschichte der NS-Zeit steht. 

Jan-Pieter Barbian

Worum geht es in Ihrem Buch?

Es ist eine Geschichte der Zerstörung und des Missbrauchs. Mit der Übernahme der Macht im Deutschen Reich am 30. Januar 1933 haben Hitler und die nationalsozialistischen Deutschen alles zerstört, was die Kultur der Weimarer Republik ausgezeichnet hatte: die Freiheit und den Pluralismus der Literatur, der Presse, der Kunst, der Musik, des Theaters und des Films, eine weltweit einzigartige Vielfalt an kulturellen Institutionen, Unternehmen der Kulturwirtschaft und Berufsverbänden, die Experimentierfreudigkeit und die Internationalität. Diese Kultur war von den deutschen Juden auf eine hingebungsvolle Weise geprägt und gefördert worden: als Produzenten, Mäzene und Rezipienten. Diesem Engagement setzten die nationalsozialistischen Deutschen ein besonders brutales Ende, wobei der Antisemitismus vor allem durch Missgunst, Neid und Profitgier motiviert war. Das lässt sich alles genauso für den Bereich der Schriftsteller und deren Interessenvertretungen, des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler, des Verlagswesens und des vertreibenden Buchhandels, der öffentlichen und der wissenschaftlichen Bibliotheken nachweisen. Immer wieder erschreckt, wie willfährig die meisten der damaligen Akteure diesen Prozess der nationalsozialistischen „Gleichschaltung“ mitgetragen haben. Was danach von Hitler, Goebbels, Rust, Ley, Rosenberg und anderen NS-Größen mit dem Buch und mit anderen Kulturwerten betrieben wurde, war ein politischer Missbrauch. Mit einem immensen organisatorischen und finanziellen Aufwand wurde die Literatur gefördert, die die Ideologie des NS-Staates im deutschen Volk verbreiten und dessen Größe nach innen ebenso wie nach außen dokumentieren sollte. Dass dies nicht vollständig gelungen ist, war der Mediokrität der völkisch-nationalsozialistischen Literaten, dem Bedürfnis vieler Menschen nach einer unpolitischen, gerne auch unterhaltsamen Lektüre und den Zerstörungen des von Deutschland entfesselten Krieges geschuldet. 

Ihre Befassung mit diesen Themen hat eine lange Vorgeschichte – nach welchen Maßgaben haben Sie die vorliegende Neuausgabe bearbeitet?

Meine Studie beruht vor allem auf der Auswertung von Quellen, die ich in den späten 1980er Jahren im Bundesarchiv Koblenz, im Berlin Document Center (BDC) und im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam eingesehen hatte. Diese Bestände befinden sich heute alle im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde – zusammen mit Aktenüberlieferungen, die die SED in ihrem eigenen Archiv aus Beständen der Reichsbehörden der NS-Zeit für politische Zwecke zusammengestellt hat. Das ist eine ausgesprochen disparate Archivlage. Sie ist noch dadurch weiter kompliziert worden, dass das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde versucht hat, die Provenienzen aus den unterschiedlichen Archiven den vorhandenen Signaturen des Bundesarchivs Koblenz zuzuordnen und auch die 1994 aus der US-amerikanischen Verwaltung übernommenen Bestände des BDC, die vollständig verfilmt wurden, einheitlich zu signieren. Durch die zweimalige Neusignierung dieser Bestände ist es schwierig, Akten, die ich von den späten 1980er Jahren bis in die frühen 2000er Jahre im BDC eingesehen hatte, unter der alten Signatur wiederzufinden. Daher habe ich sehr viel Arbeit investiert, um die Signaturen aller angegebenen Akten – und das waren mehrere hundert – auf den aktuellen Stand zu bringen. Ähnliches gilt für die Bestände der Landesleitung Berlin der Reichsschrifttumskammer, die nach der Eingliederung von Beständen aus dem ehemaligen BDC ebenfalls neu signiert wurden. Darüber hinaus habe ich die zahlreichen Publikationen eingearbeitet, die seit 2010 mit neuen Forschungsergebnissen zu Schriftstellern, Verlagen, Buchhandlungen und Bibliotheken erschienen sind. 

Mündige und politisch aufgeklärte Menschen sind wichtiger denn je für den Erhalt unserer Demokratie

Jan-Pieter Barbian

Abgesehen von bibliographischen Ergänzungen – gibt es in der Neuausgabe inhaltliche Änderungen, die Sie besonders hervorheben würden?

Hannah Arendt hat in einem Gespräch mit Günter Gaus 1964 daran erinnert, wie sie die rasche „Selbstgleichschaltung“ zahlreicher Intellektueller im Frühjahr 1933 erlebt hat. Das lässt sich für den Bereich der Literatur an vielen Beispielen belegen, die ich für die Neuausgabe meiner Studie noch einmal erweitert habe. Auch die frühe Ausgrenzung und Vertreibung der Juden aus dem Kultur- und Geistesleben, die für Arendt wie für Tausende andere deutsche Juden besonders schmerzlich war, weil sie rücksichts- und gewissenlos hingenommen oder sogar aktiv betrieben wurde, traf die jüdischen Schriftsteller, Lektoren, Verleger, Buchhändler, Antiquare und Bibliothekare, die bis 1938 alle mit einem Berufsverbot belegt wurden, insofern sie nicht bereits Deutschland verlassen hatten. Dabei kann man an der „Arisierung“ der Verlage aufzeigen, dass es sich de facto um eine Ausraubung handelte, denn der bereits 1934 vom Eher Verlag zu einem Spottpreis übernommene Ullstein-Konzern oder der 1936 in Wien gegründete und nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 liquidierte Gottfried Bermann Fischer Verlag waren viel mehr wert, als die NS-Machthaber zu zahlen bereit waren. Der Paul Zsolnay Verlag in Wien wechselte 1941 zu sehr günstigen Konditionen in den Besitz von Karl Heinrich Bischoff, der bis dahin in der Reichsschrifttumskammer Referent für die „Entjudung“ des deutschen Buchhandels gewesen war. Selbstbereicherung und Korruption gehören eben auch zu den viel zu wenig bekannten Tatsachen der NS-Diktatur. Funktionäre wie Goebbels, Rosenberg, Ley, Hinkel, Blunck oder Johst ließen sich von den Verlagen horrende Honorare zahlen oder forderten diese aufgrund ihrer amtlichen Autorität regelrecht ein. 

Sehen Sie Desiderate der Buchhandels- und Verlagsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?

Die Literatur- und die Buchhandelsgeschichte der NS-Zeit sind inzwischen sehr gut aufgearbeitet, auch die Geschichte des Exilbuchhandels dank der herausragenden Darstellungen von Ernst Fischer. Es fehlen noch Studien zum Verlag Philipp Reclam in Stuttgart, zu dem demnächst eine Dissertation erscheinen wird, und zur Geschichte des S. Fischer Verlags (ab 1942 Suhrkamp Verlag) in Berlin und des Gottfried Bermann Fischer Verlags in Wien und Stockholm, die Siegfried Lokatis und ich derzeit vorbereiten. Noch viel zu wenig erforscht ist der Neuaufbau des Verlagswesens nach 1945 – zuerst in den vier Besatzungszonen und ab 1949 in der Bundesrepublik Deutschland. Besonders spannend ist dabei die Klärung der Fragen, welche Personen mit welchen Konzepten versuchten, Bücher unter den völlig veränderten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen auf den Markt zu bringen, und wie groß die Kontinuität aus der NS-Zeit in personeller ebenso wie in thematisch-inhaltlicher Hinsicht tatsächlich war. 

In Ihrer Einführung wünschen Sie sich Aufmerksamkeit und Wertschätzung für Bücher in der demokratischen Gesellschaft – was ist aus Ihrer Sicht der Beitrag des Buchhandels zur Unterstützung dieser Anliegen?

Es ist sehr erfreulich, dass der Börsenverein des Deutschen Buchhandels seine Lehren aus der schmachvollen Geschichte der NS-Zeit gezogen hat und heute einer der wichtigsten Akteure bei der Verteidigung der Freiheit des Wortes und der weltweit geltenden Menschenrechte ist. Die Verlage und Buchhandlungen in Deutschland ebenso wie die Bibliotheken stärken dieses Engagement im Alltag mit ihrem pluralistischen Angebot. Die Förderung des Lesens ist eine wesentliche Voraussetzung für den Erwerb von Informationen und von Bildung. Es ist eine Sisyphos-Arbeit, die bei jungen Menschen einsetzen muss und niemals aufhören darf. Denn im Zeitalter der Desinformation, der Lügen und „alternativen Wahrheiten“, das auf fatale Weise an die 1930er Jahre erinnert, sind mündige und politisch aufgeklärte Menschen wichtiger denn je für den Erhalt unserer Demokratie. 

 

Jan-Pieter Barbians Standardwerk zur "Literaturpolitik im NS-Staat" ist im Frühjahr bei S. Fischer als durchgehend überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe erschienen (https://www.fischerverlage.de/buch/jan-pieter-barbian-literaturpolitik-im-ns-staat-9783103975833). Barbian leitet die Stadtbibliothek Duisburg.