Interview mit Buchpreisträger Tonio Schachinger

"Druck ist einer der Grundpfeiler von Schule"

23. Oktober 2023
Redaktion Börsenblatt

Welche Rolle spielen Games in "Echtzeit", welche Romane haben beim Schreibprozess eine Rolle gespielt und warum ist Tonio Schachinger zu Rowohlt gewechselt: Auf der Leseinsel hat Michael Roesler-Graichen den Gewinner des Deutschen Buchpreises 2023 interviewt.

Tonio Schachinger erzählt von einer Jugend zwischen Gaming und Klassikerlektüre, von Freiheitslust, die sich bewähren muss gegen flammende Traditionalisten. Drill und Rebellion stehen in seinem Roman im Vordergrund.

Juror Heinz Drügh: „Schachingers Text ist sehr souverän erzählt, das Gaming wird nachvollziehbar wie selten in der Literatur präsentiert.“

"Die Welt der Reclams und die Welt der Scooter-Spiele existieren nebeneinander"

Zwei Welten prallen in Tonio Schachingers „Echtzeit“ aufeinander, die alte traditionelle Welt und die Gamer, stellte Börsenblatt-Redakteur Michael Roesler-Graichen fest und fragte Schachinger, wie tief er in die zweite Welt eingedrungen sei: „Als ich Kind war, haben fast alle einen Gameboy gehabt, das Spielen hat mich interessiert, nicht zu sehr, eher ähnlich wie Fußball: mal interessiert, mal wieder nicht usw.“, erinnerte sich Tonio Schachinger. 2018 habe er auf YouTube entdeckt, dass es das Spiel „Age of Empire“ immer noch gibt: „Es hat eine erzählerische Ebene, und 2020 dachte ich mir: darüber könnte man schreiben.“ Es gebe viele ähnliche literarische Spiele und Menschen, die Spiele von anderen übertragen und zu ordnen beginnen – „auf Twitch schauen sich Menschen stundenlang an, wie andere Menschen spielen.“

Schachingers Verlegerin Nicola Bartels erinnerte daran, dass in den 1990er Jahren viele Spiele wie „Monkey Island“ und „Leisure suit Larry“ beliebt waren, „die Spiele waren meilenweit entfernt von dem, was Tonio in seinem Roman beschreibt.“ Das Manuskript hat die Rowohlt-Verlegerin sofort angesprochen, die Aussage „Es gilt, unseren Weg zu finden“. Zunächst „lese ich erstmal gar nicht strategisch, sondern als erste Leserin“, so Bartels. Schachinger hob hervor, dass es ihm nicht darum ging, die beiden Welten gegeneinander auszuspielen: „Man kann heute im Kiosk immer noch eine Zeitung kaufen und man kann Computer spielen – die Welt der Reclams und die Welt der Scooter-Spiele existieren nebeneinander. Mir ging es nicht darum, die beiden Welten gegeneinander auszuspielen.“

"Man ist nie so unfrei wie in der Schule"

Im Feuilleton werde „Echtzeit“ oft in eine Reihe mit Entwicklungsromanen wie Robert Musils „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ gestellt, resümierte Roesler-Graichen: Ob derlei Romane beim Schreibprozess eine Rolle gespielt hätten? „Die Literaturwissenschaftler oder die Kritiker erinnern hinterher daran – aber daran denke ich ja nicht beim Schreiben“, meinte Schachinger. Auch wenn einige finden, er karikiere Figuren wie den Deutsch- und Französischlehrer – „ das kann man so sehen, aber es ist keine Karikatur ohne Ambiguitäten, so dass sie nicht zu Schießbudenfiguren werden.“ „Druck ist einer der Grundpfeiler von Schule“, stellte Schachinger fest, in der Schule werde mit Sanktionen gearbeitet, „jeder Lehrer sagt, ‚Das ist mein Fach und du hast das und das zu tun“, und das erlebt der Schüler 15-mal… Ich habe das Gefühl, man ist nie so unfrei wie in der Schule.“

"Tanja Reich war weg, bevor ich weg war"

Weshalb ist Schachinger zu Rowohlt gewechselt? „Ich bin meinem ersten Verlag Kremayr & Scheriau sehr dankbar; aber dann war die Verlagsleiterin Tanja Reich weg, bevor ich weg war  - wenn ich die alte Beziehung wiederhaben wollte, dann müsste ich jetzt zum Leykam Verlag gehen. Das war für mich aber ein ziemlicher No-Brainer. Ich muss auf mich selbst achten; der Wechsel war gut – nein, ich bereue nichts.“

Sieht er sich in einer Traditionslinie mit anderen österreichischen Autoren?, wollte Roesler-Graichen wissen. „Das einzige Buch, das ich nach Thomas Bernhards ‚Heldenplatz‘ gelesen habe, war von Arno Geiger, und das im Wahlpflichtfach Literatur …“ bekannte Schachinger. „Man zieht aus Büchern immer das heraus, was mit einem zu tun hat. Beim letzten Buch von Heimito von Doderer etwa fand ich es interessant, über die Häuser zu lesen, die heute Altbauten sind – aber das ist sicher nicht das, was Doderer wichtig gewesen ist.“