Der Kampf um die Deutungshoheit
Der Streit um die zurückgezogenen Titel des Ravensburger Verlags offenbart eine Debattenkultur, die das Ende jeder sinnvollen Auseinandersetzung bedeutet. Ein Kommentar von Michael Roesler-Graichen.
Der Streit um die zurückgezogenen Titel des Ravensburger Verlags offenbart eine Debattenkultur, die das Ende jeder sinnvollen Auseinandersetzung bedeutet. Ein Kommentar von Michael Roesler-Graichen.
Der Fall "Der junge Häuptling Winnetou" offenbart einmal mehr, wie es um die Debattenkultur in unserem Lande, nicht nur in der Buchbranche, steht. Eine Reihe von Personen, darunter womöglich auch Menschen indigener Herkunft, empören sich darüber, dass der Ravensburger Buchverlag Bücher zu einem Film herausgibt, der angeblich rassistische und postkolonialistische Klischees oder Stereotype befördere. Ob das überhaupt zutrifft, sei zunächst einmal dahingestellt. Der betroffene Verlag zieht die Titel zurück und begründet dies mit einer sorgfältigen Abwägung zwischen den Interessen der Liebhaber:innen eines klassischen Erzählstoffs und den Empfindungen derjenigen, die darin eine Verharmlosung oder Verdrängung des Genozids und der Unterdrückung der indigenen Völker Nordamerikas sehen.
Und er fährt fort: "Der gesellschaftliche Diskurs um sensible Themen entwickelt sich stets weiter, und unsere verlegerische Position tut dies selbstverständlich auch."
Doch genau darin liegt das Problem: Der gesellschaftliche Diskurs um diese Themen ist seit geraumer Zeit gestört. Es wird nicht über sensible Themen gestritten, sondern die Sensibilität einzelner Menschen und Gruppen unterbindet einen Dialog darüber, ob etwas eine Berechtigung hat oder nicht. "Sensibilisierung" ist per se keine schlechte Sache, und sie hat auch in den vergangenen Jahren zu einer differenzierteren Betrachtung von Problemfeldern beigetragen. Doch inzwischen häufen sich die Fälle, in denen eine Gruppe – meist eine Gruppe von Aktivisten auf Social-Media-Plattformen – die alleinige Deutungshoheit für sich beansprucht und abweichende Meinungen von vornherein diskreditiert. Dabei wird in Chat-Gruppen (und außerhalb) ein Klima erzeugt, in dem eine freie Meinungsäußerung unmöglich erscheint. Jeder, der beispielsweise den Film "Der junge Häuptling Winnetou" gut findet oder verteidigt, wird postwendend abgestraft und eingeschüchtert. Der oder die Eingeschüchterte verfällt in einen Rechtfertigungsmodus und bekennt wenig später, dass man ohnehin in einem Diskussionsprozess stecke – nur noch nicht, ließe sich hinzufügen, den längst überfälligen Schritt zu einer angepassten Position gemacht habe.
Reflexartig wird jeder, der die "alte" Lesart von "Indianer" verteidigt, in die Nähe rechter Publizisten oder Politiker gerückt. Damit wird auf unzulässige Weise polarisiert, wo es doch nicht nur zwei antagonistische Lager gibt, sondern ein breites Meinungsspektrum. Doch offenbar kommt vielen, die ohne ein wirkliches, persönliches Gegenüber ihre Meinung äußern, kein nachdenkliches, zögerndes, abwägendes Denken in den Sinn. Das Apodiktische, Unversöhnliche vieler Statements steht dem Toleranzgebot, das jede plurale Gesellschaft für sich in Anspruch nimmt, entgegen. Das gilt auch für die Kritiker:innen der woken Community, deren aggressive Rhetorik eindeutig über das Ziel hinausschießt.
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