Welche Methode wenden Sie bei der Textanalyse an?
Wir betrachten jeden Text unter insgesamt zwölf verschiedenen Gesichtspunkten: etwa der Erzählperspektive, der Art der Figurenrede, der Darstellung von Emotionen, unterschwelligen Botschaften, semantischen Bezügen und Konnotationen sowie ironischen Wendungen. Jedem Frage-Gebiet legen wir bis zu 100 Bücher zugrunde. Aus den Ergebnissen leiten wir Thesen ab, die anschließend quantifiziert werden können.
In einem zweiten Projekt namens Minerva versuchen Sie, gesellschaftliche Verwerfungen und Stimmungslagen anhand von Textanalysen aufzuspüren. Worum geht es da?
Beispielsweise um den Stand der Wiedervereinigung oder um die Folgen des Technologiewandels im Ruhrgebiet.
Gibt es literarische Genres, die für Cassandra und Minerva prädestiniert sind?
Man denkt vielleicht zuerst an Science-Fiction-Romane mit ihrer oft sehr realistischen Prognostik, aber auch schon ein Liebesroman wie Goethes "Werther" enthält in seiner Tiefenstruktur die Botschaft, dass die Biografie des Helden an den Normen einer perfektionierten aufgeklärten Gesellschaft zerbricht. Aus dem provinziellen Ereignis wird eine Geschichte mit großer Tragweite. In der deutschen Gegenwartsliteratur würde ich Juli Zeh nennen, deren Romane zugleich eine Ethnographie der Befindlichkeit von Menschen sind, etwa in den Braunkohlerevieren der Lausitz. Indikatoren für ein verändertes Lebensgefühl findet man aber auch schon in Kinderbüchern.
Wie soll es mit dem Projekt Cassandra weitergehen, nachdem der Bund die Finanzierung beendet hat?
Hier in Tübingen haben wir in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kognitionswissenschaft einige Versuche gemacht. Interessant wäre für uns ein Partner aus der Software-Industrie, der in der Lage ist, größere Datenmengen auszuwerten. Und die Erfahrung hat mich gelehrt – es bedarf einer solchen "Wucht", um die Wachsschicht auf den Ohren der Entscheidungsträger zu durchdringen!