Presseschau

(Fast) keine Vorbehalte

17. Oktober 2023
Redaktion Börsenblatt

Für den Roman "Echtzeitalter" wurde Tonio Schachinger am Montag mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. In den sozialen Medien beglückwünschten ihn viele und auch seine Rede, in der er sich gegen Antisemitismus aussprach, wurde häufig geteilt. Die Pressestimmen zur Preisverleihung fielen grundsätzlich positiv aus – mit nur wenigen Ausnahmen, welche vor allem die politische Aussagekraft der Jury-Entscheidung reflektierten.

Judith Heitkamp beim Bayerischen Rundfunk empfindet "Echtzeitalter" als würdigen Preisträger. Galant stelle der Coming-of-Age-Roman alte Begriffe von Kultur und Bildung infrage, ganz bildlich zu sehen an der Figur des Deutsch-Lehrers, der die Auswahl der Klassenlektüre nach den simplen drei Formeln gestaltet: "Nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclamheft erhältlich ist." Heitkamp hält das Thema Schule für universell: es sei allen zugänglich. Der Roman enthalte "all die tief eingeprägten Schülermomente von Abfragen und sich in Antworten winden, von Bloßstellung und Risiko, Schadenfreude und aufsteigender Panik".

Adam Soboczynski ist von "Echtzeitalter" begeistert: In einem Kommentar auf ZEIT online lobt er Tonio Schachinger für seine literarische Leistung und die Jury für die gute Entscheidung. "Sie hat ein Werk gewürdigt, das sich letztlich wenig um den Zeitgeist schert, dafür erzählerisch reif, unterhaltsam und ausnehmend humorvoll ist", schreibt Soboczynski. Das Computerspiel "Age of Empires", in dem Protagonist Till immer besser wird, während seine Schulleistungen leiden, symbolisiert für Soboczynski jenen Rückzugsort, den einst die Literatur für Heranwachsende bereitgestellt habe.

Literaturkritiker Carsten Otte zeigt sich bei SWR Kultur überrascht über die Auswahl der Jury, bilde sie doch eine Entscheidung gegen einen Roman mit politischer Präsenz ab. "Das Votum für 'Echtzeitalter' lässt sich damit auch als Absage an eine viel zu oft prämierte Debattenprosa verstehen", schreibt Otte. Ausgezeichnet wurde für ihn nach den richtigen Kriterien, denn der Roman sei zeitgemäß und funktioniere eigenständig, wisse auch "mit allen Formen des Humors sprachlich zu spielen". Diese "veritable Gesellschaftssatire" überzeuge mit literarischer Qualität.

Für Gerrit Bartels im Tagesspiegel passe Schachingers schlichte, knappe Danksagung, und die Auszeichnung seines Romans — "zu harmlos" — gut zu der Longlist- und Shortlist dieses Jahres: "Diese zeichnete sich durch ein Faible für Debüts, für eine gewisse Erratik und einige Ignoranz aus." "Echtzeitalter" sei für Bartels gut lesbar, aber erzählerisch nicht herausragend. Es wirke "bei aller subtilen Ironie und mancher Lustigkeit passagenweise mitunter ein wenig schlicht“, und zu sehr im Genre des Internatsromans verhaftet. Protagonist und Roman seien aber "am Ende nur von Grund auf sympathisch".

"Nicht jedes gute Buch ist für jeden Moment das richtige", schreibt Mara Delius in der Welt und greift damit die Stimmungen von Otte und Bartels auf. Denn auch wenn "Echtzeitalter" nach Delius ein herausragender Roman ist, und es unfair sei, die "aktuelle Wirklichkeit gegen den Roman als solchen auszuspielen", sei die Buchpreis-Entscheidung immer ein Kommentar. Delius hinterfragt, ob nicht "Vatermal" von Necati Öziri oder "Die Möglichkeit von Glück" von Anne Rabe eine bessere Wahl gewesen wäre. Letzteres Buch hätte schließlich eine große Debatte eröffnet. Die Jury habe die "zwei politischeren Stimmen" übergangen. In dieser Betrachtung fließt aber auch die Wahrnehmung der politischen Welt außerhalb des Kosmos Buchpreis mit ein: die sieht Delius nämlich als eine "harte, raue, brutale, unübersichtliche".

Die Jury-Begründungen und einen Bericht über die Preisverleihung können Sie im letzten Börsenblatt-Artikel nachlesen.