Interview mit Julie Legouez

"Es wäre mutig, wenn Täter dazu stehen würden, was sie getan haben"

8. März 2024
von Sofia Lehmann

In Deutschland wird jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer bzw. sexualisierter Gewalt. Julie Legouez erlebte diese Gewalt während einer Beziehung, ausgeübt durch ihren damaligen Partner.  In "The Cure" dokumentiert die Berliner Künstlerin ihr Trauma, zeigt ihre Verletzungen und ihren Heilungsprozess. Im Gespräch erzählt sie, wo sie sich Hilfe gesucht hat und wie sie mit ihrer Kunst versucht, über strukturelle häusliche Gewalt aufzuklären.

"The Cure": Das Coverbild ist aus der Ausstellung "I WILL SURVIVE", in der Legouez sich ihr Gesicht mit Pflastern beklebte und wieder abzog. 

Der am 8. März erscheinende Band gliedert mehrere Ihrer künstlerischen Arbeiten auf, die verschiedene Themen besprechen: Ihre Erfahrungen mit häuslicher Gewalt, Projekte über Ihre Depression, eine zerbrechende Beziehung und prägende popkultureller Einflüsse von Liebe und Partnerschaft. Wie fühlt es sich an, diese Projekte so unmittelbar nebeneinander zu betrachten – verändert die Komposition die einzelnen Projekte, entstehen neue Perspektiven?

Legouez: Das Buch fängt mit der Gewalt an, die mir widerfahren ist, und danach erzähle ich durch meine Arbeit den Weg der Heilung. Also wie ich mich davon erholte, wie ich auch selbst viel Aufklärungsarbeit betrieb, um überhaupt zu verstehen, was passiert war. Nach der Tat kamen diese Pflasterarbeiten, dieses Mediative, einfach darüber hinwegkommen. Und dann habe ich angefangen zu verstehen, dass das ja gar kein Einzelfall ist, was mir passiert ist, sondern dass der Missbrauch ein System hat. In den anschließenden Arbeiten gehe ich weiter weg von mir und kritisiere auf allgemeinerer Eben das Patriarchat.

Für mich gehört das alles zusammen, deswegen gibt es für mich selbst keine neuen Perspektiven. Auch diese Arbeit mit der Depression. Die ist auch eine Folge von dem, was mir passiert ist. Danach kommen wieder die ersten Schritte, bei denen ich versuche, Vertrauen zu fassen und die dann in der neuen Beziehung scheitern. Aber ich kann mir vorstellen, wenn andere Leute das jetzt zusammengesetzt sehen, verstehen sie besser, was ich eigentlich die letzten zwei, drei Jahre gemacht habe.

Sie dokumentieren in Ihrem Projekt "Hope is not enough" Ihre Erfahrungen mit körperlicher Gewalt durch einen Ex-Partner. Präsent ist aber auch der Heilungsprozess, der in Form von Tagebucheinträgen eindrücklich nachvollzogen werden kann. Auch in Ihrem Werk "I will survive" spiegeln Sie mit Pflastern Heilungsprozesse; und durch das Abziehen der Pflaster symbolisch den Schmerz, der darin liegt. Ihr Buch trägt den Titel "The Cure" – was war Ihr Heilmittel? 

Legouez: Definitiv die Kunst. Das war in meinem Leben schon immer so. Ich verarbeite alles immer künstlerisch, also entweder durch Schreiben oder auch durch diese Kunst hier. Das war auch so bei diesen Fotos, die ich ausgedruckt von der Gewaltschutzambulanz geschickt bekommen habe. Ich habe die Fotos gesehen und mir war sofort klar, dass ich was damit machen muss. Das war mein erster Gedanke. Ich habe das sofort von mir abgespalten und nicht mehr gedacht, wie schrecklich es war, was mir passiert ist, sondern dass die Fotos eine Kraft haben.

Ich habe meine Lebensumstände geändert, weil ich mich natürlich schon gefragt habe, wie ich eigentlich in so eine Scheiße reinkomme.

Julie Legouez

Aber mein Heilmittel war auch, mein ganzes Leben daraufhin zu ändern. Ich habe aufgehört, Alkohol zu trinken und habe eine Therapie angefangen. Ich war in Selbsthilfegruppen. Ich habe meine Lebensumstände geändert, weil ich mich natürlich schon gefragt habe, wie ich eigentlich in so eine Scheiße reinkomme. Das kann wirklich jedem passieren, aber es gibt natürlich auch Sachen, die einem einfacher passieren können, wenn man in seinem Leben nie gelernt hat, sich abzugrenzen oder zu wissen, dass man Grenzen hat – das ist mir gar nicht bewusst gewesen.

Allein schafft man das nicht.

Julie Legouez

Dann habe ich diese Therapie auch gemacht, weil ich Angst davor hatte, wieder diese Beziehung einzugehen, weil der Typ sehr manipulativ war. Ich hatte viel Unterstützung von Frauenberatungsstellen, war in einer Trauma-Ambulanz, bis ich einen Therapieplatz gefunden habe und hatte auch ein soziales Umfeld als Stütze. Das Wichtigste war, gar keinen Kontakt zum Täter mehr zu haben. Und das ist schwierig, bei so einem Menschen, der Macht über einen haben will und nicht aufhört, sich ständig mit den absurdesten Sachen zu melden. Allein schafft man das nicht. Es war auf jeden Fall gut für mich, dass ich die Kunst hatte. Aber auch Hilfsangebote von Beratungsstellen, Psycholog:innen und ein soziales Umfeld.

Das sollte doch nicht mutig sein, wenn ich erzähle, dass mir Gewalt widerfahren ist.

Julie Legouez

Frauen, die in gewaltvollen Beziehungen bleiben, werden oftmals mit Unverständnis betrachtet und stigmatisiert. Das Aushalten von Gewalt wird in Ihren Tagebucheinträgen sichtbar. Sie schreiben: "Und Anstatt zu gehen und sich selbst zu lieben, bleibt man. Wieso? Ich schämte mich. Ich glaubte ihm. Ich hoffte." 2020 machten Sie Ihre Erfahrungen öffentlich. Konnten Sie mit der künstlerischen Verarbeitung die Scham überwinden?    

Legouez: Ich denke schon. Das war während Corona, als keine Ausstellung möglich war. Ich habe die Fotos nur bei Instagram veröffentlicht – die Fotos habe ich auch tatsächlich noch nie in Ausstellungen gezeigt, nur die Tagebucheinträge mit den Pflasterarbeiten.

Wieso bist du dageblieben? Das ist diese Scham, auch in der Beziehung, warum man das niemandem erzählt. Wobei ich mir heute ehrlich frage, wieso ich mich eigentlich schämen muss? Ich bin jetzt an dem Punkt angekommen, dass, wenn mir jemand sagt, dass es mutig ist, was ich tue, ich nein sage, denn, dass du das sagst, ist schon Teil des Problems. Also nicht, dass man es überhaupt sagt, aber das sollte doch nicht mutig sein, wenn ich erzähle, dass mir Gewalt widerfahren ist.

Es wäre mutig, wenn Täter dazu stehen würden, was sie getan haben und sich Hilfe suchen würden. Oder wenn andere Männer einschreiten würden, das wäre mutig. Wenn mir jetzt jemand auf der Straße eine reinhaut, warum auch immer, dann erzähle ich das natürlich auch, ohne mich zu schämen. Das ist Teil des Problems und es ist auch so gewollt, dass sich Betroffene schämen dafür, dass die in so was stecken. Aber ja, ich schäme mich gar nicht mehr dafür, was mir passiert ist.

Es hat auf jeden Fall geholfen, dass andere Frauen darüber gesprochen haben.

Julie Legouez

Ich konnte die Scham künstlerisch überwinden, aber auch, weil ich mich wirklich gebildet habe zu dem Thema. Das hat mir unglaublich geholfen, mir die Scham zu nehmen. Auch Bücher zu dem Thema zu lesen. Heute gibt es da zum Glück immer, immer mehr. Aber ich weiß noch, dass es damals, als es mir passiert ist, noch nicht so viel gab.  Ich glaube, da hat Christina Clemm gerade "Akteneinsicht" veröffentlicht. Dann gab es noch „Prügel“ von Antje Joel, die sogar zweimal so gewaltvolle Beziehung erlebt hat. Es hat auf jeden Fall geholfen, dass andere Frauen darüber gesprochen haben. Man wusste, man ist nicht allein damit.

Welche privaten und öffentlichen Reaktionen erhielten Sie auf die Veröffentlichung der Dokumentation? Wurden Sie bestärkt oder gab es auch kritische Stimmen?

Legouez: Innerhalb der Familie war es am Anfang gemischt. Meine Mutter hat mich nie für meine Entscheidungen in der Kunst kritisiert, die versteht völlig, dass es meine Arbeit ist. Ich habe auch auf Instagram nur positive Nachrichten bekommen, auch viele von Betroffenen selbst. So viele Follower auf Instagram hatte ich damals auch nicht, das waren vielleicht 700, 800 und trotzdem habe ich sehr viele Nachrichten bekommen von Frauen, die auch häusliche Gewalt erlebt haben. Für meinen Vater war es ein bisschen die Frage, ob man das in die Öffentlichkeit tragen muss – aber ich denke mir, ja muss man.

 

Wenn man seine Geschichte erzählt und dann die schockierten Gesichter sieht, begreift man erst, wie schlimm es ist, was einem widerfahren ist.

Julie Legouez

Nachdem Sie körperlich angegriffen wurden, haben Sie sich einer rechtsmedizinischen Untersuchung in der Gewaltschutzambulanz der Charité unterzogen und dieses Dokument, aus dem auch die Bilder mit Ihren Verletzungen stammen, ebenfalls im jetzt erscheinenden Titel veröffentlicht. Häufig zeigen Menschen, die sexuelle, psychische oder physische Gewalt erfahren haben, diese nicht an und öffnen sich nicht gegenüber Ärzt:innen. Wie haben Sie diese medizinische Untersuchung erlebt? 

Legouez: Die Gewaltschutzambulanz ist geschult auf Gewalterfahrungen.  Es sind auch nur Frauen, die total sensibel und lieb sind. Es ist mir ja mehrmals passiert, aber ich bin nur nach dem ersten Mal hingegangen. Später habe ich gar nichts mehr dokumentieren lassen, sondern manchmal selbst Fotos gemacht. Es war natürlich auch krass: Wenn man seine Geschichte erzählt und dann die schockierten Gesichter sieht, begreift man erst, wie schlimm es ist, was einem widerfahren ist.

Haben Sie Anzeige erstellt?

Legouez: Nein, bis heute nicht, weil einem davon ja meistens auch abgeraten wird. Man kann sich fragen, ob zurecht oder nicht. Im Endeffekt weiß man nicht, ob die Sache überhaupt vor Gericht landet, man weiß ja noch nicht mal, ob die Staatsanwaltschaft überhaupt eine Anklage schreibt. Natürlich ist es besser, anzuzeigen. Im Nachhinein denke ich mir, ich hätte es machen sollen, auch um andere Frauen zu schützen. Das war bestimmt nicht das erste Mal, das er sowas gemacht hat und wird wahrscheinlich auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Das ist etwas, was ich bereue. Auf jeden Fall. Aber damals wäre ich nicht in der Lage gewesen, das durchzustehen – dann wäre ja auch wieder Kontakt hergestellt worden.

Weil die angezeigte Person die Kontaktdaten des Anzeigenden erhält, oder?

Legouez: Ja, genau. Da müsste sich auf jeden Fall etwas ändern. Es kann auch bis zu zwei Jahre dauern, bis es zum Prozess kommt, und man möchte ja auch weitermachen. Aber es muss jeder für sich selbst wissen.

Im Rahmen der Möglichkeiten auch.

Legouez: Genau, man braucht ja auch Geld für Anwälte und andere Kosten, es ist ja auch eine finanzielle Sache.

 

Die Dokumentation als Ausdrucksart zieht sich durch Ihre Kunst. Neben der schon besprochenen Dokumentation Ihrer Gewalterfahrung mit Bildern und gerichtsmedizinischen Gutachten sowie Tagebucheinträgen dokumentieren Sie bei "Aktenzeichen 512-261_AW//JL_22" eine kürzliche Trennung. Warum wählen Sie immer wieder diese eher nüchterne Form der Präsentation?

Legouez: Das mache ich so schon lange. Ich arbeite mit drei Materialarten: Einmal das Büro, diese Dokumentation mit der Schreibmaschine und die Büroästhetik, dann gibt es das Krankenhaus und Betten. Den Kontrast durch die Büroästhetik finde ich immer sehr schön dort, wo es um extreme Gefühle geht. Die herunterzubrechen auf das, was es eigentlich ist, ohne Kitsch, und es ganz nüchtern zu betrachten, hat mich immer schon gereizt.

Ich würde das, was ich tue, als kämpferischen Akt bezeichnen, weil ich auch versuche, aufzuklären.

Julie Legouez

Wie sehr nehmen Sie Kunst als politisches Signal war? Anders gefragt: Ist Kunst, die patriarchale und sexuelle Gewalt und psychische Erkrankungen behandelt, immer ein kämpferischer Akt? 

Legouez: Ja, ich sehe Kunst natürlich als großes politisches Konzept. Die Frage ist, muss Kunst politisch sein? Ich denke nicht, dass Kunst immer politisch sein muss. Ich finde, in Zeiten wie jetzt, finde ich es schon wichtig, dass es das gibt. Andere sagen vielleicht, dass man sich auch in Kunst verlieren können muss. Alles hat für mich seine Berechtigung, für mich kam das anders nur nie in Frage.

Und ich würde das, was ich tue, als kämpferischen Akt bezeichnen, weil ich auch versuche, aufzuklären. Diese Themen betreffen alle, aber es wird immer Othering betrieben, und gesagt, es passiere nur den anderen, nur den ärmeren Bevölkerungsschichten und so weiter. Dabei findet häusliche Gewalt genau so viel in akademischen Kontexten statt. Und ich würde auch sagen, dass die meisten Leute, die meine Ausstellungen besuchen, aus diesem Kontext kommen. Jede dritte Frau hat schon mal sexualisierte Gewalt erlebt. Dann steht man auf einer Ausstellung, und niemand redet darüber..

Es ist aber auch wichtig, die Männer abzuholen. Alle kennen Frauen, denen sowas passiert ist, aber niemand kennt einen Täter.

Julie Legouez

Meine Ausstellungen besuchen überwiegend Frauen oder weiblich gelesene Personen, weil ich die eher mit meiner Kunst begeistere. Es ist aber auch wichtig, die Männer abzuholen. Alle kennen Frauen, denen sowas passiert ist, aber niemand kennt einen Täter. Deswegen versuche ich auch, sowas in Ausstellungen zu thematisieren.

Ich kuratiere auch Ausstellungen, bei denen Talks mit Politiker:innen und Selbstverteidigungskurse stattfinden. Ich versuche Kunst nicht nur als Ausstellung zu sehen, sondern als mehr. Das man schon versucht, einen gesellschaftlichen Wert beizutragen, einen Wandel mitzutragen, damit sich etwas verändern kann.

"The Cure" erscheint am 08.März bei Shiftbooks. Die Druckkosten wurden erfolgreich durch Crowdfunding finanziert. Am 20. März findet im C/O Berlin von 18 bis 20 Uhr eine Buchpräsentation statt. Julie Legouez‘ neue Ausstellung "My Happy Place" ist vom 8. März bis 8. April 2024 in der Galerie Kollaborativ in der Saarbrücker Str. 25 in Berlin zu sehen.

240.547 Menschen erlebten 2022 Häusliche Gewalt, 157.818 davon in Partnerschaften. 80 Prozent sind Frauen, die Täter mit 78 Prozent überwiegend männlich. Dies kann im Bundeslagebild Häusliche Gewalt 2022 vom Bundeskriminalamt hier nachgelesen werden. 

Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen“ berät anonym unter der 116 016 sowie im Online-Chat.