Künstliche Intelligenz und Literatur

Erzählen mit ChatGPT

11. Dezember 2023
von Michael Roesler-Graichen

Kann ChatGPT Literatur produzieren, oder besser gefragt: Kann man mit ChatGPT kreative Erzähltexte generieren? Nicht ohne gedankliche Vorkehrungen, und dann auch nur bedingt, wie ein Experiment der Autorin Jenifer Becker, des Autors Juan S. Guse und beider Lektor Albert Henrichs (S. Fischer) beweist.

Das KI-gestützte Erzählexperiment kann man in Ausgabe 4 der 1890 gegründeten, seit diesem Jahrgang neu designten "Neuen Rundschau" lesen. Der Artikel "Alpha Centauri in Ewigkeit" ist zudem (wie ein weiterer des Bandes) online für jedermann zugänglich – wie auch in den übrigen Heften je zwei Artikel online gestellt werden. 

Die Autorin Jenifer Becker und ihr Kollege Juan S. Guse haben in Zusammenarbeit mit ihrem S. Fischer-Lektor Albert Henrichs eine Versuchsanordnung aufgebaut, in der die Dialog- und Kommunikations-KI ChatGPT nach bestimmten Vorgaben eine Geschichte erzählen soll, die im australischen Outback spielt.

Erzählen mit der KI hat Züge von Regiearbeit. Man muss ChatGPT sogenannte Prompts, Handlungsanweisungen vorgeben, nach denen sie einen Text erstellt. Damit die KI, die man ebenso eine Gebrauchsanleitung für ein Auto texten lassen könnte, eine "Ahnung" von Literatur bekommt, muss man auf entsprechende Vorbilder verweisen. Das ist im vorliegenden Fall Kathrin Passigs Text "Sie befinden sich hier", in dem sie beschreibt, wie ein Mensch im Schnee abhanden kommt; ein Text, mit dem sie 2006 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Als Setting für "Alpha Centauri in Ewigkeit" wählen Becker und Guse Australien, und es wird aus zwei Perspektiven erzählt, der von "Thomas" und der von "Maria".

Jenifer Becker übernimmt den Part "Maria", der mit einigen Schwierigkeiten und Frustrationen verbunden ist. Es kamen zwar durchaus gelungene Formulierungen und Absätze zustande, doch dann schwächelte die KI und setzte sprachliche und inhaltliche Vorstellungen der Prompt-Geberin nur sehr unvollkommen um. Immerhin: Das, was am Ende herauskam, hat schon Züge von Literatur – wie eine "Story aus meinem Traumtagebuch", so die Autorin. Wesentlich "eigenständiger" wirkt hingegen die "Thomas"-Perspektive, die auf das erste Stück reagiert. 

Eine Kostprobe des Textes (die Eingangssätze) zeigt, wie "kompetent" ChatGPT bereits erzählen kann, wenn man die KI entsprechend präpariert: "Die Sonne senkte sich am westlichen Horizont und tauchte die australische Wildnis in warmes orangefarbenes Licht. Ich rieb mir den Staub aus den Augen und starrte auf die verblasste Landkarte, die auf meinem Schoß lag. Thomas' Blick fixierte den sich langsam verdunkelnden Himmel. Mit einer berechnenden Ruhe versuchte er, unsere Position anhand der ersten sichtbaren Sterne zu bestimmen. Seine Handbewegungen, präzise und methodisch, skizzierten unsichtbare Linien zwischen den funkelnden Punkten. 'Wir sollten etwa hier sein', sagte er und zeigte auf einen unscheinbaren Punkt auf der Karte. Thomas war gut darin, selbst in den chaotischsten Momenten Stabilität zu suggerieren."

Durchaus denkbar, dass eine speziell auf Literatur trainierte KI eines Tages brauchbare Trivial- oder Serienromane liefert, die so konsumiert werden wie komplett von Menschen ersonnene und geschriebene Erzählungen. Vielleicht entsteht dann ein neues Berufsbild, der "Story-Prompter". Denn das Gelingen solcher Texte wird vermutlich zu einem großen Teil von den Variablen und Inhalten abhängen, mit dem man die KI füttert. Man darf auf weitere Experimente gespannt sein.