Die Stärke der Vielen
Eine besondere Nähe zu ihrer Kundschaft hat den kleineren, inhabergeführten Buchhandelsbetrieben in der Corona-Krise geholfen, besser abzuschneiden als größere Filialisten. Meint Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir.
Eine besondere Nähe zu ihrer Kundschaft hat den kleineren, inhabergeführten Buchhandelsbetrieben in der Corona-Krise geholfen, besser abzuschneiden als größere Filialisten. Meint Börsenblatt-Chefredakteur Torsten Casimir.
Noch keine zwei Jahre liegt der Abend zurück. Media Control hatte auf der Buchmesse zum Empfang geladen. Man kam in aller Businessroutine, im Gepäck das immer schon Geglaubte über diesen Buchmarkt, das man sich von Zeit zu Zeit gerne empirisch bestätigen lässt. Man rechnete mit Bier und Bretzeln, nicht mit Überraschungen. Gereicht wurde aber doch eine verblüffende Erkenntnis: Für die Umsätze der ersten drei Quartale 2018 hatte sich herausgestellt, dass die großen Buchfilialisten knapp fünf Prozent im Vorjahresvergleich zurücklagen, die kleineren Händler jedoch im selben Zeitraum um 0,7 Prozent zulegen konnten. Das war mal eine Nachricht vom Format "man bites dog"!
Jetzt kommen die Marktforscher erneut mit Zahlen um die Ecke, die aufmerken lassen. Beobachtungszeitraum diesmal: die Wochen vor und während des Corona-bedingten Lockdowns. In den 16 Kalenderwochen hat der kleinere, inhabergeführte Buchhandel erheblich besser abgeschnitten als filialisierte Buchhändler mit vier und mehr Läden. Am krassesten zeigen das die Zahlen aus der totalen Shutdown-Phase vom 23. März bis 19. April. In diesen Schreckenswochen konnten die Kleinen immerhin die Hälfte ihrer gewohnten Umsätze retten, die Großen hingegen brachen stationär um brutale 96,5 Prozent ein.
Was lässt sich daraus ablesen?
Erstens: Die persönlichen Auskünfte von selbständigen Buchhändler*innen, die uns gerade von eher guten Geschäften berichteten, sind keine zufällig positiven Anekdoten, sondern spiegeln die Marktsituation wider. – Die Buchwelt scheint zu taumeln, aber Sie schlagen sich wacker? Bekommen Sie keinen Schreck, Sie sind mit Ihren Erfolgen nicht allein.
Zweitens: Umsatz ist nicht Gewinn. Die kleineren stationären Buchhändler*innen haben sich ihre Zahlen mit maximalem Einsatz erkämpft. Sie haben ohne Ende Überstunden gefahren, über Nacht auf Onlinehandel umgeschult, aufwendige Lieferdienste ins Werk gesetzt, Versandgebühren erlassen, Kundennähe auch (und erst recht!) unter den Bedingungen von Social Distancing hergestellt. Das kostete sie Kraft und Zeit, und weil Zeit Geld ist, haben diese Sortimenter*innen für ihre Umsätze einen recht hohen Preis gezahlt. Rechnet man ihn betriebswirtschaftlich ehrlich ein, bleibt unten rechts nur mehr ein Erfölgchen.
Drittens: Small ist nicht nur beautiful, sondern erleichtert agiles Handeln. Je weniger Abstimmung nötig ist; je kürzer die Entscheidungswege; je unmittelbarer die Erfahrung von Selbstwirksamkeit der Beteiligten – desto wahrscheinlicher wird es, dass lösungsorientierte Prozesse schnell anlaufen. Kleine buchhändlerische Teams profitieren in Krisenzeiten offenbar ganz besonders von unternehmerischer Freiheit. Das haben sie beeindruckend unter Beweis gestellt.
Viertens: Die Auswertungen von Media Control ziehen zwar einen Vergleich entlang des Kriteriums Unternehmensgröße, sie sind trotzdem ungeeignet, die Leistung von Großen und Kleinen wertend gegeneinander zu stellen. Die Erfolge der vielen selbstständigen Bucheinzelhändler bedeuten nicht einen Misserfolg der größeren Filialisten. Diesen blieb ja gar nichts anderes übrig, als in der Corona-Krise in vollkommen anderer Weise zu agieren. Laufkundschaft, ohne die in 1A-Lagen der Innenstädte kein rentables Wirtschaften möglich ist, gab es von einem auf den anderen Tag nicht mehr. Kurzarbeit war das gebotene Instrument, wirtschaftliche Schäden zumindest abzumildern. Die 96,5 Prozent Minus in KW 13 bis 16 sind die breite Spur einer unvermeidbaren Vollbremsung.
Fünftens: Stammkunden haben sich in der Krise als höchstes Gut der Bucheinzelhändler erwiesen. Ihre Loyalität und ihre Haltung, mit der sie in diesem Frühjahr ganz bewusst lokale Geschäfte unterstützen wollten, ist enorm wertvoll. Sieht man hier ein – bloß temporäres – Zusammenrücken in schwerer Zeit? Oder geben die Zahlen bereits Hinweise auf ein langfristig verändertes Konsumverhalten, das auf Nachhaltigkeit, Nähe und persönliche Beziehungen setzt? Je schneller die Antwort auf diese Frage gegeben wird, desto schlechter ist sie vermutlich zu gebrauchen. Umfragen der jüngsten Zeit deuten eher darauf hin, dass die Pandemie an den Grundhaltungen zum Konsum wenig verändert hat. Wenn (bzw. falls) Corona irgendwann wieder weg sein wird, dürfte eine breite Mehrheit der Bevölkerung shoppen wie zuvor. Auch Bücher.
Shoppen also wie in den ersten drei Quartalen 2018. Und schon damals zeichnete sich ab: Buchhändlerische Vielfalt ist nicht nur ein starkes Argument für Menschen, die die Preisbindung begründen wollen. Diversität ist mehr als nur ein Triggerwort für romantische Herzen. Das weltweit nach wie vor einmalige, lebendige Bild des Bucheinzelhandels in Deutschland erweist sich als eine hoch funktionale Struktur. In Zeiten, in denen Kaufen stark mit sozialer Beziehung zu tun hat (einer übrigens schlecht skalierbaren Bedingung), entfaltet diese Struktur ihre Vorteile auf besonders spürbare Weise. Und liefert verdammt gute Gründe, für ihren Erhalt zu arbeiten.
Natürlich gibt es dieses Kriterium, es wird nur nie darüber gesprochen: Dieses Kriterium findet sich in der angemessenen Bezahlung der Buchhändlerinnen. Angemessen heißt in diesem Fall eine Bezahlung, die zumindest dem Einzelhandelstarif entspricht. Ein Großteil der Beschäftigten im inhabergeführten Buchhandel arbeitet aber für ein monatliches Gehalt, das in den meisten Fällen fünfhundert Euro - und zum Teil noch weit mehr- unter dem Tarif des Einzelhandels liegt.
Wenn inhaberinnengeführte Buchhandlungen ihre Mitarbeiter nach Tarif bezahlen würden, wären wohl ein Großteil von ihnen schlicht und ergreifend pleite. Das zum Thema Rendite!
Warum viele Buchhandlungen nicht in der Lage sind, eine wirklich ausreichende Rendite zu erwirtschaften? Ach, lass mal, das ist ein zu weites Feld…