Daniela Strigls Laudatio auf Karl-Markus Gauß

Die sieben Sachen des Wanderers

17. März 2022
Redaktion Börsenblatt

Als "Wanderer" hat Daniela Strigl in ihrer Laudatio Karl-Markus Gauß charakterisiert: "Als Forscher und Reporter nicht minder denn als Leser, Denker und Schriftsteller ist Karl-Markus Gauß ein Wanderer, und ich möchte hier gewissermaßen seinen symbolischen Rucksack in Augenschein nehmen", heißt es in ihrem Text. Lesen Sie ihn vollständig, es lohnt sich.

Die sieben Sachen des Wanderers
Laudatio für Karl-Markus Gauß
Zur Verleihung des Leipziger Preises zur Europäischen Verständigung am 16.3.2022

„Ich bin gar kein Wanderer, erst recht kein praktizierender Philosoph des langsamen Gehens und schon gar kein bedächtiger Mensch.“ Das hält Karl-Markus Gauß in seinem jüngsten, wenn ich richtig zähle, 25. Buch „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ fest, da ihn ein Salzburger Stadtwanderer zum Seelenverwandten erkoren hat. An anderer Stelle beschreibt Gauß sich gar als passionierten Stubenhocker. Seine Leser kennen ihn freilich als einen, der unermüdlich unterwegs ist. „Die unaufhörliche Wanderung“ ist ein Buch ohne Gattungsbezeichnung, nur in einer Verlagsannonce hat es den Untertitel „Reportagen“. Es enthält außerdem historische und politische Essays und Autobiographisches. Und es zeigt, daß der Titel nicht nur Bewegungen der Migration faßt, sondern auch den Existenzmodus des Autors. Als Forscher und Reporter nicht minder denn als Leser, Denker und Schriftsteller ist Karl-Markus Gauß ein Wanderer, und ich möchte hier gewissermaßen seinen symbolischen Rucksack in Augenschein nehmen, seine Siebensachen oder, wie man in Österreich auch sagt, Siebenzwetschken, mit deren Hilfe er zuverlässig seinen Bestimmungsort erreicht, auch wenn es vordringlich nicht darum geht. Über seinen verleugneten Salzburger Wesensverwandten meint Gauß: „Mag er ein Ziel haben, ist es doch seine Begabung, dieses aus den Augen zu verlieren, sobald sich ihm die Gelegenheit bietet.“ Oder, wie Heimito von Doderer es formuliert hat: „Umwege erhöhen die Ortskenntnis.“

1. Neugier
Eine „von innen leuchtende Weltneugier“ bescheinigt Gauß dem Gesicht jenes Stadtwanderers. Obwohl er, Gauß, „immer alles verstehen“ wolle, habe er sich um das, was ihn selbst antreibe, „nie gekümmert“: „Es nicht zu wissen, beruhigt mich sehr.“ Daß jene „Weltneugier“ wesentlich dazugehört, darf man annehmen. Die Neugier des KMG gilt Menschen, wie dem muslimischen Sommelier im albanischen Berat, der den Wein liebt und wortreich beschreibt, aber sein Lebtag keinen Tropfen getrunken hat; sie gilt Orten, wie Třebíč/Trebitsch in Mähren, der „Stadt ohne Juden“ mit dem schönsten, perfekt restaurierten Ghetto Europas; sie gilt Gegenden, wie dem Truppenübungsplatz von Allentsteig, den die Republik Österreich der deutschen Wehrmacht und der Zerstörung von 42 Dörfern verdankt; sie gilt Minderheiten und Minivölkern, wie den Gottscheern in den USA, die die verschollene Heimat ihrer Vorfahren am Balkan im Internet beleben, ohne Deutsch oder „Gottscheeberisch“ zu können; sie gilt der bedrohten Artenvielfalt der europäischen Sprachen, die Gauß nicht einem Phantasma der „Einsprachigkeit der Welt“ vor dem mythischen Turmbau zu Babel opfern will. Kurzum: Gauß’ Neugier gilt dem sogenannten versunkenen Kulturgut, das hier zu einem guten Teil als versenktes erscheint.

Der literarische Forschungsreisende zeigt, daß auch das Abgelegte und das Abgelegene nicht außerhalb der Geschichte existiert. „Ein Hinschauer sein, kein Zuschauer!“ Diesem Vorsatz ist KMG auch als Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ seit über dreißig Jahren treu. Die „verwischten Spuren der Revolte“ sogar in Österreich zu entdecken ist für Gauß eine Frage der Lust. Die „Neugier der Hände“ beim Stöbern im Bücherregal ist dabei genauso wichtig wie der Lokalaugenschein. Nichts Geringeres als die Teilhabe an einem „Korrekturprogramm der Weltgeschichte“ schwebt ihm vor, doch er ist kein Didaktiker der Wissensvermittlung, seine Bücher sind vielmehr Projekte, „in denen ich etwas herausbekommen und erfahren wollte, was ich einzig in der Literatur herausbekommen und erfahren kann“.

2. Trittsicherheit
Der Titeltext von „Die unaufhörliche Wanderung“ ist Odessa gewidmet. In dem prächtigen Palais, in dem die mit Hitler verbündete rumänische Armee 1941 die jüdischen Todeslisten erstellt hat, findet der Kurs „Schönheit und Vollkommenheit“, eine Art Benimmkurs für die ambitionierte junge Frau von heute statt. Im Straßenverkehr scheint für manche Geländewagenfahrer das Faustrecht zu gelten, und der Reisende erfährt, daß Autonummern, die mit 777 enden, für die Polizei tabu sind: Sie gehören dem organisierten Verbrechen und der Staatsanwaltschaft. Der Stadtwanderer bestaunt nicht nur die restaurierten Fassaden, er betritt beherzt auch den Hinterhof der Gesellschaft. Gauß ist das, was man „meinungsstark“ nennt, aber er kehrt dabei auch vor der eigenen Haustür: Die Abschiebung eines serbischen Roma-Mädchens, das nach einer beachtlichen Schulkarriere in Salzburg in einer Nervenheilanstalt landet und von dort zurück in den Slum geschickt wird, ist für Gauß das Ergebnis „sozialer Verrohung“.

Der trittsichere Wanderer bewegt sich auf dem Boden eines aufgeklärten Humanismus, einer unprätentiösen Redlichkeit, er scheut weder das Minenfeld des Meinungskriegs, noch ist er sich zu gut, den einen oder anderen Tritt auszuteilen. Den Brexit-Betreiber Boris Johnson nennt er rundheraus einen „Schurken“. Überhaupt will er nicht dabei zusehen, „wie die Union von gesinnungslosen Egomanen und nationalistischen Lumpen in Trümmer gelegt wird“. Er kämpft einen edlen Windmühlenkampf gegen die schrecklichen Vereinfacher auf allen Seiten. Dževad Karahasan– auch er ein Leipziger Preisträger – pries Gauß einmal für die „Schönheit der kleinen Unterschiede“.
Von Karl Kraus stammt die Erkenntnis: „Wer Meinungen von sich gibt, darf sich auf Widersprüchen nicht ertappen lassen. Wer Gedanken hat, denkt auch zwischen den Widersprüchen.“ Was Gauß zwischen den Widersprüchen denkt, äußert sich als Eigensinn jenseits des Verabredeten. Er widerspricht auch und gerade dort, wo es billig wäre zuzustimmen. So fragt er angesichts der Gräber der Partisanen-Opfer im Gottscheer Hornwald: „Haben Gewalttäter, die die Menschenrechte verletzten, selber keine Menschenrechte mehr? Darf man sie malträtieren, lynchen, namenlos ins Massengrab schlagen?“

Den Krieg hat er nicht erlebt und ist doch mit ihm aufgewachsen. In seinem meisterlichen Kindheitsbuch „Das Erste, was ich sah“ ist es die Radiostimme der Vermißtenmeldungen, die das Wohnzimmer ausdehnt bis zum „Schlachtfeld von Charkow“ und zu den „Sümpfen des Donezk“, die selbst abwesend die vielen Abwesenden beschwört: „Sie war es, die in mir das Bewusstsein meiner selbst geweckt hat.“

3. Schwindelfreiheit
Schwindelfrei zu gehen und selbst auf ausgesetztem Pfad die Balance zu wahren, hat ohne Zweifel etwas mit dem Bewußtsein seiner selbst zu tun. Karl-Markus Gauß eignet die Gabe aber auch in ihrer zweiten Bedeutung. Er kommt ohne Schwindel aus, nennt die Dinge beim Namen, spricht Tacheles. Wenn er etwa in „Die versprengten Deutschen“ berichtet, im „für seine Schönheit berühmten“ schwarzmeerdeutschen Dorf Elsaß sei er „ratlos“ gewesen „vor so viel menschenfeindlicher Häßlichkeit“. Gegen die zeitgenössische Inflation der „Demut“ im öffentlichen Diskurs hegt er eine tiefe Skepsis, will er sich doch „ohne routinierte Gebärden der Devotion“ freuen dürfen. Verständigung heißt für ihn nicht, das Schlechte schön- und dem anderen nach dem Mund zu reden: „Es gibt eine politische Sprachverzärtelung, für die gilt: je rauer die Sitten, umso kuscheliger die Sprache.“ So tritt Gauß – dem Karl Kraus’ „Fackel“ ein Licht aufgesteckt hat – als Feind der Phrase auf, mag sie auch noch so gut gemeint sein.

Und wenn ein Moskauer Mathematikprofessor für den „wissenschaftlichen Beweis“, daß Jesus 1053 auf der Krim geboren sei und es die Antike nie gegeben habe, den russischen Staatspreis für Wissenschaften erhält, ist das nicht bloß bizarr: „Wer politisch auf die Dummheit setzt oder mit ihr sein mediales Geschäft betreibt, arbeitet daran, die Demokratie zu schädigen, die Menschenwürde zu schänden.“

Vorsicht läßt der Autor indes auch gegenüber der Konstruktion seiner selbst walten, eines Selbstbildes, mit „dem ich nicht verwechselt werden möchte, aber mich selbst längst zu verwechseln begonnen habe“.

4. Leichtes Gepäck
Karl-Markus Gauß ist als Einzelgänger unterwegs, er kommt ohne Seilschaft aus. Auch deshalb setzt er auf leichtes Gepäck: keine ehernen Wahrheiten, kein Pathos, kein Denkverbot, keine Vorurteile. Das wußte schon Marie von Ebner-Eschenbach: „Jeder Mensch hat ein Brett vor dem Kopf – es kommt nur auf die Entfernung an.“

So gilt Gauß’ Mißtrauen den großen Worten und großen Gefühlen, seine Vorliebe dem Kleinen, dem Marginalen. Der Fluchtweg seiner Eltern, donauschwäbischen Nazigegnern, 1945 aus der Batschka nach Salzburg hat seine Wanderroute vorgegeben oder doch: beeinflußt. Bereits vor 25 Jahren versteht er in seinem „Europäischen Alphabet“ „Identität“ als „defensive und offensive Kategorie zugleich“. Nach Isaiah Berlin, den Gauß zitiert, ist die Nation eine Gruppe von Menschen, die sich in einem gemeinsamen Irrtum über ihre Herkunft befinden. Für die Wurzeln dieses Irrtums und seine produktiven wie zerstörerischen Folgen hat Gauß sich stets mehr interessiert als für das Phantom der historischen Wahrheit. Der erste europäische Nachkriegskrieg, der jugoslawische Sezessionskrieg mit dem NATO-Angriff auf Serbien, war Thema in „Literatur und Kritik“; die multinationale Struktur der Donaumonarchie, Jugoslawiens und der Europäischen Union und die zentrifugalen Kräfte darin haben Gauß nachhaltig beschäftigt.

In seinem Einsatz für die kleinen Völker, der ihm den Spitznamen „Minderheiten-Gauß“ eingetragen hat, erkennt er selbst heute eine gewisse Neigung zur romantischen Verklärung des Underdogs. Daß die Mehrheit jenseits des Nationalen heute aus lauter Minderheiten besteht und der Wunsch nach fest umrissener Partikularität just in einer Welt der fließenden Grenzen immer lauter wird, ist ihm suspekt. Identität taugt für ihn nur als „Fundus von Möglichkeiten“. Keineswegs ist Gauß bereit, mit den „Frömmlern der Identitätspolitik“ auf die Frage zu verzichten, woher jemand kommt. Für ihn heißt danach zu fragen, einen Menschen als geschichtliches Wesen ernst zu nehmen.

5. Festes Schuhwerk
„Sätze, wie sie mir gefallen. Sie haben keine Krawatte umgebunden, gehen aber auch nicht im Trainingsanzug herum. (...) Sie bevorzugen festes, doch bequemes Schuhwerk, denn sie müssen weit gehen, ohne zu ermüden.“ In der Tat tragen Gauß’ Sätze weit, jeder einzelne holt aus und hält erst inne, wenn er die Figur eines Gedankens abgeschritten hat. Er sei eben kein „Denksteller“, sondern ein Schriftsteller, der erst beim Schreiben erfährt, was er über ein Buch, eine Sache denkt. Ja, er muß, wie er mit kühner Unverblümtheit gesteht, schreiben, „weil ich nur im Schreiben so gescheit bin, wie ich sein kann“. Als Satzbaumeister ist Gauß nicht bloß, wie man ihm gerne attestiert, elegant, er ist brillant, weil seine komplexe Syntax ein komplexes Denken spiegelt. Ihre Musikalität, ihr Anteil an museumsreifen Wörtern, das Raumgreifende ihrer Architektur verleihen den Gaußschen Sätzen ein altmeisterliches Gewand. Aber, wie der Germanist Peter von Matt einmal über den von Gauß hochgeschätzten jüdischen Heimatdichter und Sozialdemokraten Theodor Kramer gemeint hat: „Für lange Märsche braucht es alte Schuhe.“

Die Stilfigur des Paradoxons prägt als Überraschungsmoment nicht von ungefähr Gauß’ Journale und Reiserzählungen, Essays und Polemiken. Der Widerspruch ist das Movens dieses fortschreitenden Formulierens. Und der Feind des Autors ist nicht der, der ihm widerspricht, sondern der Beipflichter, der Rechtgeber, der Abnicker. Nicht weniger überzeugend ist Gauß selbst aber als Fürsprecher und was er sagt, will ich auf seine Prosa münzen: „Bewundern können! (...) Sich wundern, wie gut es gelingen kann, und sich darüber freuen.“

6. Kompaß
Was heißt es heute, links zu sein? In den achtziger Jahren konnte man als junger Mann zum Beispiel auf den Eurokommunismus hoffen und für das Wiener Tagebuch schreiben, dessen Mitarbeiter Martin Pollack, Ryszard Kapuściński und Eric Hobsbawm den Leipziger Preis ebenfalls erhalten haben. Der Linke reiferen Alters wäre schon mit einem sozial abgefederten „Eurokapitalismus“ zufrieden. „lechts und rinks / kann man nicht velwechsern“, dichtete Ernst Jandl, die paradoxe Intervention bewahrheitet sich mehr denn je. Die Gegner der EU in der EU, die Gegner staatlicher Hygienepolitik finden sich links wie rechts. Die Feindseligkeit gegen Flüchtlinge jedoch bleibt vor allem eine rechte Spezialität. Viktor Orbán verlangt, sogenannte Illegale europaweit „einzusammeln“ – und Gauß erinnert daran, daß man Menschen zuerst zu Dingen degradieren muß, bevor man sie unmenschlich behandelt.

Karl Markus-Gauß’ Gang durch Europa orientiert sich an dessen Rändern, an dessen Peripherie. Europa, das ist Paris, London, Berlin, Wien, Prag, Moskau, aber eben auch Odessa, die Zips in der Slowakei, die Heimat der Sorben in Ostdeutschland, Kalabrien mit der Volksgruppe der Arbëreshë. Der Kontinent definiert sich nicht nur buchstäblich durch seine Grenzen, wie den Reisenden eine Verhaftung am Pruth durch die moldawische Polizei lehrt: „An der Art der Grenze, die sie der Peripherie verordnet, erweist sich nicht nur die Macht, sondern auch der politische Charakter des Zentrums.“ Definition heißt auch Abgrenzung. Gauß’ historischer Befund liest sich heute prophetisch, nämlich „dass dieses Europa seiner Prinzipien, Werte, Eigenheiten nur innewerden kann, wenn es eine Gegenwelt findet oder erfindet (...). Um zu einem Bewusstsein seiner selbst zu gelangen, muss man tatsächlich auch erkennen und erspüren, was man alles nicht ist.“

7. Kondition
Als Wanderer durch die Geschichte, die Literatur, die Landschaften Europas hat KMG eine erstaunliche Kondition bewiesen – auch dort, wo der reale Radius bescheiden war, wie in der „Abenteuerlichen Reise durch mein Zimmer“. Dabei weigert er sich, die „unaufhörliche Wanderung“ der vielen, seit jeher durch Krieg, Hunger und Verfolgung erzwungen, als den „wahren Daseinsmodus des Menschen“ zu feiern. Migration ist kein Akt der Freiheit.

Woher nimmt einer, der um die schlechte Einrichtung der Welt weiß und in dessen Werk die Abschiedsrede, die Verlustmeldung einen prominenten Platz einnimmt, seinen langen Atem? Gauß hat sich als Anhänger der Zeit, nicht der Ewigkeit erklärt. Sein Engagement ist konkret diesseitig, seine Haltung ist eine kämpferische Wehmut, nicht Larmoyanz. Auf Pessimisten und Defätisten reagiert der „Liebhaber der Welt“ allergisch, weil er in ihnen „Kollaborateure des Missglückenden“ sieht.

Die Mühen der Ebene entmutigen diesen Wanderer nicht und auch nicht die Durststrecken: „Ja, die Geschichte kennt auch den Rückschritt. (...) Errungenschaften, die wie für ewige Zeiten gesichert erscheinen, werden auf einmal gekappt, eingezogen, abgeschafft.“ – Aber worauf es ihm ankommt und was ihm gelingt, ist, mit den Worten eines Aufklärers, „die Vermeidung der Trostlosigkeit“.

Ich gratuliere ganz herzlich zum Leipziger Preis zur Europäischen Verständigung und wünsche dem unaufhörlichen Wanderer andauernde Ausdauer auf seinem Weg!