Der Deutsche Preis für Nature Writing wird 2020 zum vierten Mal vergeben. Er ist mit 10.000 Euro sowie einem sechswöchigen Schreibaufenthalt in den Räumlichkeiten der Stiftung Nantesbuch dotiert.
Der Preis geht 2020 mit Ulrike Draesner und Esther Kinsky wieder an zwei Preisträgerinnen. Zudem erhalten Tim Holland und Susanne Stephan jeweils ein Stipendium zur Teilnahme am international besetzten Nature Writing Seminar der Stiftung Nantesbuch vom 15.-18. April 2021 in Bad Heilbrunn. Aufgrund der aktuellen Corona-Lage wird die Preisverleihung nicht wie ursprünglich geplant am 28. August 2020 in Berlin stattfinden, sondern im April nächsten Jahres im Rahmen des Nature Writing Seminars der Stiftung Nantesbuch nachgeholt werden.
Die Jury setzte sich in diesem Jahr aus den amtierenden Preisträgerinnen Daniela Danz und Martina Maria Kieninger, dem Literaturwissenschaftler und Autor Ludwig Fischer, der leitenden Programmkuratorin der Stiftung Nantesbuch Annette Kinitz, der Literaturvermittlerin Brigitte Labs-Ehlert sowie dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Steffen Richter zusammen.
Würdigung
"Ulrike Draesner beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, wie angemessen ›von der Natur‹ zu schreiben sei. Ihr Text »Radio Silence« radikalisiert die Ansätze, eine Sprache für Naturwahrnehmung und Naturbegegnung zu finden, die über ›deskriptiv‹ oder ›homogenisierend‹ hinausgeht. Sie überschreitet entschieden Genre- bzw. Gattungsgrenzen: Elemente von Essay, Bericht, Theorie, autobiografischem Notat, Gedicht sind ineinander verwoben, der Wechsel von Innen- und Außenwahrnehmung wird meisterlich gehandhabt, und in der Variation der Sprechweisen verbinden sich äußerste sprachliche Präzision und sinnliche Anschaulichkeit. Es gelingt Ulrike Draesner, hohes theoretisches Bewusstsein und genaue naturkundliche und zeitgeschichtliche Kenntnisse mit einer außerordentlichen Nähe zur wahrgenommenen Mitwelt in der avancierten Textgestaltung zu einem hervorragenden Beispiel für zeitgenössisches Nature Writing zu verweben.
Esther Kinsky widmet ihre Aufmerksamkeit in vielen Büchern dem Gelände und weist auf Dynamik und Vielschichtigkeit, auf Beharren und Verändern, auf die Wechselbeziehung von menschlichem Vorstoß und natürlichem Widerstand hin. Sie schafft damit ein Neugelände.
In ihrem Text »Tagliamento«, in dem sich Prosa und Lyrik verschränken, schreitet Esther Kinsky sprachlich eine der letzten wilden, unregulierten Flusslandschaften Europas ab. Ihr Text folgt dem Lauf des Flusses, der in den Friulanischen Dolomiten entspringt und in das Adriatische Meer mündet, seinen Evolutionen, den Menschen, ihren Sprachen und ihrer Geschichte. Sie hört dem Wasser zu, liest im Stein und betrachtet das Spiel von Licht, Schatten, Farben. Sie bringt die Dinge selbst zum Sprechen, sie geben etwas preis, das älter als ihre Namen ist. In der scheinbar distanzierten Betrachtung gelingt es ihr, durch die Sinnlichkeit und Genauigkeit der Sprache eine überaus große Nähe und Empathie herzustellen. Wie der Fluss unter dem Schotter mäandert, so fungieren bei Esther Kinsky einzelne Wörter – auch poetisch anverwandelte geologische Fachbegriffe – wie Gelenke, Abzweigungen, Verzweigungen, an denen eine konkrete Wahrnehmung überführt wird in eine andere Bedeutungsebene. Und immer wieder entdeckt man Sprachfährten, die auf die Versehrtheiten und Erschütterungen am Tagliamento hindeuten. Esther Kinskys intensive sprachliche Erkundung und »Befragung« der Naturwahrnehmung zeigt: Keine Landschaft ist unschuldig."