Im April 2011 kamen die ersten Kindle-Geräte auch in Deutschland auf den Markt. Zu dieser Zeit hatte das Gerät eine Monopolstellung im E-Reader-Markt – auch wegen des Contents, der mit ihm verbunden war - , und bei Flügen mit US-Fluglinien konnte man regelmäßig vor dem Start die Ansage „Please, switch off your Kindle!“ hören. Im März 2013 kam dann die Antwort der deutschen Branche auf Amazon: die Tolino-Allianz mit dem eigenen Lesegerät Tolino, die unter anderen von Thalia, Hugendubel und Weltbild getragen wurde und erst kürzlich die ersten Geräte mit Farbbildschirmen ausgeliefert hat.
Mit der Markteinführung des Kindle begann eine Phase des E-Book-Hypes, in der Branchenbeobachter dem digitalen Buch Marktanteile im hohen zweistelligen Prozentbereich prognostizierten. In dieser Zeit entstand auch das gemeinsam von mir und dem früheren MVB-Geschäftsführer Ronald Schild herausgegebene Buch „Gutenberg 2.0. Die Zukunft des Buches“ ( Gutenberg 2.0 : die Zukunft des Buches ; ein aktueller Reader zum E-Book - Deutsche Digitale Bibliothek (deutsche-digitale-bibliothek.de) ), das in Teilen bis heute Gültigkeit hat, dessen Ausblick auf „Lesebühnen der Zukunft“ mich (als damaligen Autor!) aber heute zum Teil schmunzeln lässt. Zitat aus „Gutenberg 2.0“: „Das Wort »Buch« wird vielleicht eine semantische Verschiebung erfahren, die es eher zur »Bühne« für Inhalte macht – eine Bühne, auf der sich Texte mit multimedialen Sequenzen mischen werden, auf der Buchlandschaften entstehen, die unserer heutigen Rezeptionshaltung möglicherweise widersprechen, vielleicht aber auch ungeahnte, überraschend neue Qualitäten des medialen Erlebens in sich bergen.“
Kaum eine Prognose, die in dem Buch geäußert wurde, ist so später eingetroffen. Ja, das E-Book hat sich als digitales Buchmedium etabliert, mit einem Marktanteil von rund sechs Prozent im Publikumsmarkt stellt es aber keine Bedrohung für das klassische gedruckte Buch dar – zumindest nicht im Publikumsmarkt. Die Befürchtung, dass das von einigen Fortschrittsjüngern verspottete „Totholz“-Medium künftig nur noch ein Nischendasein fristen würde, war überzogen. Die mit der Digitalisierung von Büchern beginnende Experimentalphase gehört heute weitgehend der Vergangenheit an. Es wurde – auch in großen Publikumsverlagen – mit „enhanced“ E-Books experimentiert, es gab „Multibooks“ und E-Books, die gleichzeitig in mehreren Sprachen erschienen. All dies hat sich weitgehend erledigt, und wenn heute Content multimedial aufbereitet wird, dann kann man diesen auf Smartphones oder Tablets konsumieren.
Was allerdings in den Jahren nach der Jahrtausendwende allmählich verschwand, waren bestimmte Buchgattungen, die der Konkurrenz durch das Internet und insbesondere durch Enzyklopädie- und E-Learning-Plattformen nicht standhalten konnten oder zumindest durch sie stark unter Druck gerieten. So kollabierte der Markt für gedruckte A-Z-Nachschlagewerke (mit dem Flaggschiff Brockhaus) fast vollständig – und die Lehrbuch-Produktion schrumpfte erheblich und wäre womöglich vollends versiegt, wenn man nicht neue, hybride Wege für ihre Nutzung gefunden hätte. Immerhin ist das klassische Schulbuch immer noch das Ankermedium in deutschen Schulklassen, und alle Anläufe, es vollständig durch digitale Exemplare, Apps oder Online-Kurse zu ersetzen, waren bisher nicht von Erfolg gekrönt. In der Fach- und Wissenschaftswelt hat das Buch ebenfalls noch nicht ausgedient, aber häufig wird es „digital first“ produziert und nur auf Wunsch gedruckt – eine durchaus sinnvolle Priorisierung, weil sich so einerseits Lagerkosten sparen lassen und andererseits die Backlist lieferbar gehalten werden kann.
Dass Smartphones heute fast durchweg das Kommunikations- und Rezeptionsmedium sind, das unseren Alltag begleitet, hat natürlich zu einer Verknappung von Aufmerksamkeits- und Freizeitressourcen für das klassische Buch geführt. Lesezeiten schrumpfen, was dazu führt, dass bei manchen Zeitgenossen seltener der Wunsch aufkeimt, ein Buch in die Hand zu nehmen. Die mediale Überforderung vieler Menschen, die in Chats und Channels gefangen sind, hat aber die Lust am Buch nicht verschwinden lassen. Gerade jüngere Generationen wie Gen Y und Gen Z haben die haptisch-ästhetischen Qualitäten und das Entschleunigungsmoment des physischen Mediums wiederentdeckt und auf BookTok einen wahren Bücherkult begründet, der auch den Verlagen und Buchhandlungen wieder neues Kundenpotenzial erschließt. Frappierend ist, wie hier junge Menschen, die in einer digitalen Medienumgebung aufgewachsen sind, das analoge Medium feiern – auch wenn die inhaltliche Spannbreite der Bücher häufig noch zu wünschen übrig lässt.
Wir haben es hier mit einer Dialektik der Digitalisierung zu tun, die bei Digital Natives den Wunsch nach dem Analogen als Objekt der lesenden Begierde, aber auch als schönem Gegenstand (mit Farbschnitt und anderen Ausstattungsmerkmalen) neu hervortreibt – eben auch deshalb, weil sich gedruckte Bücher in ganz anderer Weise visuell inszenieren lassen als ein E-Book. Das Ganze ist eine Entwicklung, die man auch bei Tonträgern beobachten kann: Spotify auf dem Smartphone oder in der Soundbox, aber Vinyl auf dem Sideboard, mit einem coolen Cover und dem besonderen Hörerlebnis, dass die Eltern aus der Boomer-Generation kannten. Wer hätte vor 25 Jahren die Prognose gewagt, dass im Jahr 2024 Plattenspieler Konjunktur haben? Oder dass Instagramer und TikToker New-Adult- oder Romance-Bücher kaufen? Vielleicht ist das Buch manchmal auch ein Rettungsring in einem Ozean digitaler Nachrichten und Streams, an den man sich halten kann. Mag sein, dass dies die romantisierende Deutung eines Boomers ist, aber ein Phänomen ist diese Entwicklung schon.