Essay

Das Buch - eine Langzeitbetrachtung

22. August 2024
von Michael Roesler-Graichen

Nicht nur Bücher haben ihr Schicksal, sondern auch das Buch als Gattung. Dabei erweist es sich allen Gefährdungen zum Trotz als resilientes, langlebiges Medium. Von Michael Roesler-Graichen, der die Börsenblatt-Redaktion nach über 23 Jahren in diesen Tagen verlässt und in den Ruhestand geht.

Als meine Zeit beim Börsenblatt im Dezember 2000 begann, wurde in der Buchwelt heftig diskutiert und wild spekuliert, welches Schicksal dem guten alten Buch, das aus dem Kodex der Spätantike hervorging, im digitalen Zeitalter widerfahren könnte. Noch war der Begriff der digitalen Transformation nicht in aller Munde, aber es gab schon eine Vorstellung davon, wie sich der Paradigmenwechsel auf das Buch und auf das Lesen auswirken könnte. Sven Birkerts formulierte sie in seinem 1997 auf Deutsch erschienenen Buch „Die Gutenberg-Elegien“. Und er bezog sich dabei vor allem auf die Veränderung der Lesekultur, die das Lesen am Bildschirm (nicht nur des Computers, sondern später auch des E-Readers) auslösen würde.

Birkert beklagt, dass im Zeitalter der Online- und Bildschirmtexte das „tiefe Lesen“ („deep reading“) zunehmend dem „horizontalen Lesen“ weiche. Die Lektüre am Bildschirm, sei es über das Internet und dessen Hypertextstruktur oder die aufbereiteten Texte auf CD-ROM, unterbinde durch zu viel Informationsreize das „Tiefenverständnis". Eine Sorge, die Leseforscher:innen bis heute beschäftigt – bis zum Ljubljana-Manifest, das für vertiefendes Lesen plädiert und dafür eine höhere Lesekompetenz einfordert. ( "Mehr Tiefgang!" (boersenblatt.net))

Aber Birkerts Wehklage war weniger ein Abgesang auf das gedruckte Buch als ein Plädoyer für das traditionelle, lineare, sukzessive Lesen. Die Diskussion um die Jahrtausendwende kreiste um den „Hypertext“, der die Rezeption von Literatur radikal zu verändern drohte. Die E-Books, die dann erschienen, imitierten jedoch in der Hauptsache die Architektur und die Logik des klassischen Buchs. Was sie vom diesem unterschied, waren Zusatzfunktionen wie die Volltextsuche, eingebaute Querverweise oder das Anlegen von Lesezeichen.

In meiner Schreibtisch-Schublade liegt bis heute eines der ersten Produkte, welches man als elektronisches Lesegerät bezeichnen kann: der im Jahr 2000 in den Handel gebrachte eBookMan von der US-Firma Franklin. Im Gegensatz zum Rocket eBook, das seit 1998 erhältlich war, fungierte der eBookMan auch als Personal Digital Assistent mit Notizbuchfunktion und Audio-Abspielmöglichkeit. Er war damit zugleich ein Vorläufer des Smartphones, das neben den spezifischen E-Book-Readern zu einem konkurrierenden Lesegerät werden würde, spätestens mit dem Launch des ersten iPhones im Jahr 2007. Kurz vor der Jahrtausendwende und auch in den Jahren danach war das Lesen auf elektronischen Devices eine exotische Angelegenheit. Das änderte sich spätestens mit der Einführung des Kindle von Amazon im November 2007, der einen lesefreundlichen Bildschirm mit der E-Ink-Technologie hatte. Zweieinhalb Jahre später, im April 2010, brachte dann Apple sein erstes iPad heraus, das natürlich auch als Lesegerät genutzt wird, für E-Paper ebenso wie für E-Books.

Das neue iPad in Los Angeles (2010)

2010 in Los Angeles: das soeben eingeführte iPad von Apple mit der zugehörigen Börsenblatt-Meldung

Im April 2011 kamen die ersten Kindle-Geräte auch in Deutschland auf den Markt. Zu dieser Zeit hatte das Gerät eine Monopolstellung im E-Reader-Markt – auch wegen des Contents, der mit ihm verbunden war - , und bei Flügen mit US-Fluglinien konnte man regelmäßig vor dem Start die Ansage „Please, switch off your Kindle!“ hören. Im März 2013 kam dann die Antwort der deutschen Branche auf Amazon: die Tolino-Allianz mit dem eigenen Lesegerät Tolino, die unter anderen von Thalia, Hugendubel und Weltbild getragen wurde und erst kürzlich die ersten Geräte mit Farbbildschirmen ausgeliefert hat.

Mit der Markteinführung des Kindle begann eine Phase des E-Book-Hypes, in der Branchenbeobachter dem digitalen Buch Marktanteile im hohen zweistelligen Prozentbereich prognostizierten. In dieser Zeit entstand auch das gemeinsam von mir und dem früheren MVB-Geschäftsführer Ronald Schild herausgegebene Buch „Gutenberg 2.0. Die Zukunft des Buches“ ( Gutenberg 2.0 : die Zukunft des Buches ; ein aktueller Reader zum E-Book - Deutsche Digitale Bibliothek (deutsche-digitale-bibliothek.de) ), das in Teilen bis heute Gültigkeit hat, dessen Ausblick auf „Lesebühnen der Zukunft“ mich (als damaligen Autor!) aber heute zum Teil schmunzeln lässt. Zitat aus „Gutenberg 2.0“: „Das Wort »Buch« wird vielleicht eine semantische Verschiebung erfahren, die es eher zur »Bühne« für Inhalte macht – eine Bühne, auf der sich Texte mit multimedialen Sequenzen mischen werden, auf der Buchlandschaften entstehen, die unserer heutigen Rezeptionshaltung möglicherweise widersprechen, vielleicht aber auch ungeahnte, überraschend neue Qualitäten des medialen Erlebens in sich bergen.“

Kaum eine Prognose, die in dem Buch geäußert wurde, ist so später eingetroffen. Ja, das E-Book hat sich als digitales Buchmedium etabliert, mit einem Marktanteil von rund sechs Prozent im Publikumsmarkt stellt es aber keine Bedrohung für das klassische gedruckte Buch dar – zumindest nicht im Publikumsmarkt. Die Befürchtung, dass das von einigen Fortschrittsjüngern verspottete „Totholz“-Medium künftig nur noch ein Nischendasein fristen würde, war überzogen. Die mit der Digitalisierung von Büchern beginnende Experimentalphase gehört heute weitgehend der Vergangenheit an. Es wurde – auch in großen Publikumsverlagen – mit „enhanced“ E-Books experimentiert, es gab „Multibooks“ und E-Books, die gleichzeitig in mehreren Sprachen erschienen. All dies hat sich weitgehend erledigt, und wenn heute Content multimedial aufbereitet wird, dann kann man diesen auf Smartphones oder Tablets konsumieren.

Was allerdings in den Jahren nach der Jahrtausendwende allmählich verschwand, waren bestimmte Buchgattungen, die der Konkurrenz durch das Internet und insbesondere durch Enzyklopädie- und E-Learning-Plattformen nicht standhalten konnten oder zumindest durch sie stark unter Druck gerieten. So kollabierte der Markt für gedruckte A-Z-Nachschlagewerke (mit dem Flaggschiff Brockhaus) fast vollständig – und die Lehrbuch-Produktion schrumpfte erheblich und wäre womöglich vollends versiegt, wenn man nicht neue, hybride Wege für ihre Nutzung gefunden hätte. Immerhin ist das klassische Schulbuch immer noch das Ankermedium in deutschen Schulklassen, und alle Anläufe, es vollständig durch digitale Exemplare, Apps oder Online-Kurse zu ersetzen, waren bisher nicht von Erfolg gekrönt. In der Fach- und Wissenschaftswelt hat das Buch ebenfalls noch nicht ausgedient, aber häufig wird es „digital first“ produziert und nur auf Wunsch gedruckt – eine durchaus sinnvolle Priorisierung, weil sich so einerseits Lagerkosten sparen lassen und andererseits die Backlist lieferbar gehalten werden kann.

Dass Smartphones heute fast durchweg das Kommunikations- und Rezeptionsmedium sind, das unseren Alltag begleitet, hat natürlich zu einer Verknappung von Aufmerksamkeits- und Freizeitressourcen für das klassische Buch geführt. Lesezeiten schrumpfen, was dazu führt, dass bei manchen Zeitgenossen seltener der Wunsch aufkeimt, ein Buch in die Hand zu nehmen. Die mediale Überforderung vieler Menschen, die in Chats und Channels gefangen sind, hat aber die Lust am Buch nicht verschwinden lassen. Gerade jüngere Generationen wie Gen Y und Gen Z haben die haptisch-ästhetischen Qualitäten und das Entschleunigungsmoment des physischen Mediums wiederentdeckt und auf BookTok einen wahren Bücherkult begründet, der auch den Verlagen und Buchhandlungen wieder neues Kundenpotenzial erschließt. Frappierend ist, wie hier junge Menschen, die in einer digitalen Medienumgebung aufgewachsen sind, das analoge Medium feiern – auch wenn die inhaltliche Spannbreite der Bücher häufig noch zu wünschen übrig lässt.

Wir haben es hier mit einer Dialektik der Digitalisierung zu tun, die bei Digital Natives den Wunsch nach dem Analogen als Objekt der lesenden Begierde, aber auch als schönem Gegenstand (mit Farbschnitt und anderen Ausstattungsmerkmalen) neu hervortreibt – eben auch deshalb, weil sich gedruckte Bücher in ganz anderer Weise visuell inszenieren lassen als ein E-Book. Das Ganze ist eine Entwicklung, die man auch bei Tonträgern beobachten kann: Spotify auf dem Smartphone oder in der Soundbox, aber Vinyl auf dem Sideboard, mit einem coolen Cover und dem besonderen Hörerlebnis, dass die Eltern aus der Boomer-Generation kannten. Wer hätte vor 25 Jahren die Prognose gewagt, dass im Jahr 2024 Plattenspieler Konjunktur haben? Oder dass Instagramer und TikToker New-Adult- oder Romance-Bücher kaufen? Vielleicht ist das Buch manchmal auch ein Rettungsring in einem Ozean digitaler Nachrichten und Streams, an den man sich halten kann. Mag sein, dass dies die romantisierende Deutung eines Boomers ist, aber ein Phänomen ist diese Entwicklung schon.

Bunt aufgemachte Romance-, New-Adult- und Fantasy-Titel sind bei jüngeren Leser:innen sehr beliebt: im Bild ein Stapel mit Farbschnitten bei CPI

Aber was sind das für automatisch kreierte Erzählwelten, und fehlt ihnen nicht etwas Fundamentales? Doch, es fehlt ihnen der offene Horizont, es fehlt ihnen die Dimension des Überraschenden, die sprachliche Entschlossenheit, den Fuß auf eine imaginierte terra incognita zu setzen, deren Geheimnisse man nicht kennt. Es fehlt ihnen das Erratische, Magische, die Ironie, die das, was man schafft, zugleich wieder aufhebt. Es fehlt ihnen die Zukunft.

Michael Roesler-Graichen

Doch auch wenn das physische Buch nicht dem Untergang geweiht ist, sondern in Teilen eine Renaissance erlebt ist, ist das „Buch“ als von Menschen geschaffenes Werk im Zuge der digitalen Transformation einer Gefahr ausgesetzt, die seine Substanz gefährdet: die künstliche Intelligenz, vor allem in Gestalt der generativen KI. Mit der generativen künstlichen Intelligenz, die seit einigen Jahren im Einsatz ist und via ChatGPT allen zugänglich ist, muss auch der Gedanke des Schöpferischen (vor allem in der Belletristik) neu durchdacht werden. Was ist noch kreative literarische Leistung, wenn eine KI ein Erzählsetting entwirft, wenn sie Protagonisten modelliert, wenn sie eine Dramaturgie entwickelt, wenn sie die Auflösung einer komplexen Handlung findet? Wenn alles, was ein Creative-Writing-Kurs vermittelt, automatisiert wird? Den neuzeitlichen Kränkungen, die mit der Kopernikanischen Revolution einsetzten und mit Freuds Theorie des Unbewussten oder der Hirnforschung nicht aufhörten, fügt die generative KI eine weitere hinzu: die der automatischen Kreation von Erzählwelten. Aber was sind das für Erzählwelten, und fehlt ihnen nicht etwas Fundamentales? Doch, es fehlt ihnen der offene Horizont, es fehlt ihnen die Dimension des Überraschenden, die sprachliche Entschlossenheit, den Fuß auf eine imaginierte terra incognita zu setzen, deren Geheimnisse man nicht kennt. Es fehlt ihnen das Erratische, Magische, die Ironie, die das, was man schafft, zugleich wieder aufhebt. Es fehlt ihnen die Zukunft.

Ich habe ChatGPT gebeten, Geschichten im Stil von Franz Kafka zu schreiben. Das Ergebnis: Je nach Prompt-Eingabedatum variierende Short Storys, die alles, was man aus dem Kafka-Kosmos kennt, zu einem Plot verbinden. „Die Verwandlung“, „Das Urteil“ und „Der Prozess“ und vielleicht noch andere Ingredienzen aus Kafkas Prosa werden hier – wie in dem bekannten Kochgerät eines deutschen Staubsauger-Herstellers – zu einem Eintopf verrührt, der nur ein äußerst schwacher Abklatsch dessen ist, was auch 100 Jahre nach dem Tod des Dichters noch irritiert. Keine KI der Welt, und hieße sie auch Kafka 2.0, wird jemals an diese hellsichtige, klare und zugleich so abgründige und vielschichtige Literatur heranreichen.