Da kommt noch was on top
Sollen wir wirklich immer die Extrameile gehen, wenn eine Zusatzaufgabe an uns herangetragen wird? Das hängt von den eigenen Zielen ab.
Sollen wir wirklich immer die Extrameile gehen, wenn eine Zusatzaufgabe an uns herangetragen wird? Das hängt von den eigenen Zielen ab.
Besteht nicht eigentlich das ganze Berufsleben daraus, dass immer mehr dazukommt? Das kann doch nicht gutgehen, noch mehr und mehr zu machen! Und wenn die Chefin in der Tür steht und uns etwas als super Projekt verkauft, das nun noch »on top« kommt, klingt das alles andere als lohnend. Die Überstunden, die sich dafür häufen werden, können wir schon in diesem Moment körperlich spüren.
Die Buchbranche ist eine, in der wir uns gegenseitig mit unserer Begeisterung anstecken, wo wir Geschichten von Menschen verkaufen und mit absolut menschlichen Themen arbeiten. Wir haben eine Leidenschaft zum Beruf gemacht und stehen voll hinter den Inhalten – da ist es oft schwer, Nein zu sagen. Dann kommt die Zusage schneller als gedacht über die Lippen, obwohl es sich falsch anfühlt, noch mehr zu machen, und sogar Freizeittermine dafür abzusagen. Um in solchen Fällen nicht einzuknicken, ist es ratsam, gut in sich hineinzuspüren, sozusagen einen kleinen Achtsamkeitskompass mit sich zu tragen: Wann lohnt sich das, was on top kommt – und wann wird es wirklich zu viel?
Viele Angestellte haben keine Lust auf Mehrarbeit – auf diese berühmte »Extrameile«, die wir immerzu gehen sollen – bei uns wohl den »Extra-Buchmeter«. Wen wundert’s? Die Entlohnung ist in unserer Branche meist schlecht bis mittelmäßig, die Zukunftsaussichten allgemein nicht rosig. Da zeigt die Kompassnadel dann in die entgegengesetzte Richtung. Jungen Arbeitnehmenden wird gern vorgeworfen, sich nicht anstrengen zu wollen, Dienst nach Vorschrift zu erledigen, zu pünktlich in den Feierabend zu verschwinden. In meinen Augen ist das so weit gut nachvollziehbar – wo kein Nutzen, da besser kein Aufwand. Allerdings wird die Sache mit dem Nutzen oft etwas zu eindimensional gesehen. Denn der besteht nicht nur in monetärem Ausgleich.
Ein Appell, gerade an junge Menschen: Nutzt die Gelegenheiten, im Job zu wachsen. Es kann ja auch keine Lösung sein, täglich dasselbe zu tun und schon früh in Routinen gefangen zu sein. Dann langweilt man sich in 40 Berufsjahren nämlich zu Tode. Besser, man nimmt mal eine Sonderaufgabe an und lernt Neues, entdeckt ein neues Lieblingsgebiet oder einen anderen Tätigkeitsbereich. Vielleicht ist sogar eine Fortbildung für das neue Projekt drin? Gut möglich, dass man irgendwann sogar im Unternehmen die Abteilung wechselt … Wenn Sie sich das klarmachen, schwingt sich Ihre Kompassnadel möglicherweise genau in Richtung Extrameile ein.
Langfristig betrachtet ist es gut möglich, dass sich dieser Einsatz am Ende monetär auswirkt – durch bessere Karrieremöglichkeiten, höhere Bezahlung, gute Vorsorge und mehr Sicherheit im Alter.
Jetzt möchte ich Ihnen natürlich nicht einreden, sich ausbeuten zu lassen. Nur Folgendes: Wenn Sie einen ersten deutlichen Impuls (egal, ob abwehrend oder zustimmend) verspüren, erbitten Sie Bedenkzeit und blicken Sie auf den inneren Kompass. Wenn es wirklich zu viel wird, besprechen Sie das sachlich mit dem oder der Vorgesetzten. Und wenn nicht: viel Freude – und das meine ich ganz unironisch.
Veronika Weiss (38) ist in Wien aufgewachsen und hat dort Germanistik und Musikwissenschaften studiert. Nach Praktikum und Elternzeitvertretung in der Verlagsgruppe HarperCollins (Cora Verlag) in Hamburg arbeitete sie dort als Lektorin. Seit 2021 ist sie frei als Texterin und Lektorin tätig. Im Börsenblatt schreibt Weiss unter anderem über Trends in der Arbeitskultur, Berufseinstieg und Work-life-Balance.
Sie schreiben, dass es "gut möglich" sei, dass sich der Mehreinsatz eines ohnehin schon überdurchschnittlich engagierten Mitarbeiters ("eine Leidenschaft zum Beruf gemacht und [die Mitarbeiter] stehen voll hinter den Inhalten") über Umwege monetär auswirkt. Meiner Meinung nach schlagen Sie damit genau in die falsche Kerbe. So leid es mir tut - es sollte nicht nur "gut möglich" sein, dass sich die "Extra-Meile" auszahlt. Es sollte absolut selbstverständlich sein, dass das so ist!
Einen engagierten Mitarbeiter an einem Nasenring namens Hoffnung durch die Manege zu ziehen (oder es auch nur in Betracht zu ziehen, das zu tun) hat seitens eines Unternehmens nichts mit einer "Extra-Meile" oder einer „Belohnung“ durch neue Aufgaben zu tun, sondern repräsentiert eine hochgradig schädliche Unternehmens- und Arbeitskultur, die darauf beruht, dass der Mitarbeiter im Rahmen einer diffusen Bringschuld in Vorleistung gegenüber seinem Arbeitgeber gehen soll. Und das auch noch auf die Gefahr hin, dass Erfolge nicht dem Mitarbeiter, sondern dem Unternehmen zugeschrieben werden und außerdem - was es noch unsinniger macht - ausbleibende Erfolge dem Mitarbeiter, aber nicht dem Unternehmen angelastet werden.
Bei aller Liebe zur Branche und zur Sache: Der Ratschlag, sich Bedenkzeit auszubedingen ist wenig hilfreich, wenn man nicht weiß, wie man diese Bedenkzeit konstruktiv nutzen soll. Bei einem guten oder schlechten Gefühl braucht niemand Bedenkzeit - und sich zu einer Entscheidung "durchzuringen" ist ganz sicher keine konstruktive Nutzung einer ausgehandelten Bedenkzeit. Was man (Mitarbeiter und Unternehmen gleichermaßen!) braucht, ist eine Unternehmenskultur, die mir als Mitarbeiter Zeit und Raum gibt, Bedingungen zu formulieren, unter denen ich bereit bin, die "Extra-Meile" zu gehen und letztlich offen mit dem Unternehmen über diese Bedingungen verhandeln zu können.
Den Ball immer wieder an den Mitarbeiter zurückzuspielen, ohne mit einem Wort die Verantwortung des Unternehmens gegenüber diesem Mitarbeiter zu benennen, tut das Gegenteil von dem, was Sie (vermutlich) erreichen wollen: Nämlich den Mitarbeiter im Job wachsen zu lassen.
Wenn ein Mitarbeiter wiederum in einem Unternehmen wächst, dass zwar ihm, dem Mitarbeiter, dieses Wachstum zugesteht, ohne dass es allerdings im Gegenzug die Verpflichtung eingeht, dessen Job, dessen Aufgaben, dessen Verantwortung, zuletzt dessen Entlohnung ebenso mitwachsen zu lassen: Was soll da langfristig anderes herauskommen als frustrierte Mitarbeiter einerseits und nicht allzu erfolgreiche Unternehmen andererseits?
Darum meine Bitte an Sie, aber auch die Redaktion: Reden Sie nicht, trotz bester Absichten, den bestehenden, offenbar aber mindestens einseitig dysfunktionalen Unternehmens- und Arbeitskulturen der Branche das Wort. Nutzen Sie Ihre Reichweite zum Aufbau von Selbstbewusstsein seitens der Mitarbeiter und zum Abbau von Hierarchiehürden seitens der Unternehmen. Davon haben alle mehr.
Mit freundlichen und vorweihnachtlichen Wünschen
Sören Ohle