Buchhandel auf der documenta fifteen

"Offen gestanden: Wir hatten beide etwas Bammel"

28. Juni 2022
Sabine Cronau

Kunstbuchspezialist Walther König teilt sich das documenta-Geschäft diesmal mit einem Indie: der Hofbuchhandlung Vietor aus Kassel. Was lernen beide Seiten aus der Kooperation, die der „Lumbung“-Idee der documenta folgt? Und welche Konsequenzen hat die Debatte über Antisemitismus auf der Kunstschau? Ein Interview mit Lothar Röse und Franz König.

Die Buchhandlung der documenta fifteen (18. Juni bis 25. September) ist im so genannten ruruHaus untergebracht - einem Kaufhaus mit Blick auf Fridericianum und Friedrichsplatz, das seit 2018 leer stand. Das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa, das die documenta unter dem gemeinschaftlichen „Lumbung“-Gedanken kuratiert, sieht das „ruruHaus“ als Labor und Wohnzimmer der documenta. Die Buchhandelsfläche wird gemeinsam von der Buchhandlung Walther König (Kunst und Kunsttheorie) und der Kasseler Hofbuchhandlung Vietor (Belletristik, Sachbuch, Regionalia) betrieben.

Zwei Buchhandlungen unter einem Dach, wie muss man sich das vorstellen?

Franz König, Buchhandlung Walther König: Dass es zwei Buchhandlungen sind, ist nur an den beiden Schriftzügen zu erkennen. Innen betreiben wir eine zusammenhängende Ladenfläche, mit einem gemeinsamen Kassensystem und einer gemeinsamen Warenwirtschaft.

Lothar Röse, Hofbuchhandlung Vietor: Den „Lumbung“-Gedanken, das Motto der documenta, setzen wir auch bei der Arbeit im Laden um. Wir helfen uns gegenseitig: Wenn ein LKW mit Bücherkisten ankommt, laden alle mit aus. Auf das Miteinander sind wir auch ein bisschen stolz, die documenta-Buchhandlung hat einen ganz besonderen „Spirit“. Das Sortiment ist so bunt wie die Kunstschau. Eine Galerie mit Leuchtgloben, eine Comic-Rakete und Graphic Novels setzen optische Akzente.

König konzentriert sich auf Fachliteratur rund um die Kunst, die Buchhandlung Vietor auf Belletristik, Sachbücher, Kinderbücher, Regionalia – lässt sich die Arbeitsteilung so zusammenfassen?

Röse: Ja, die Buchhandlung König bietet ihr Spezialgebiet Kunst und Kunsttheorie an – und wir von Vietor spiegeln quasi das Angebot unserer Buchhandlung auf der documenta. Das heißt: Es gibt keine Bestsellerwand, sondern schöne Bücher aus Verlagen, denen wir uns verbunden fühlen. Und darüber hinaus alles, was mit der Geschichte und der Region von Kassel zu tun hat. documenta-Besucher bekommen dadurch die Möglichkeit, die ganze Gegend zu erkunden. Ich bin Lokalpatriot!

König: Wir setzen unseren Schwerpunkt natürlich bei den Themen, die in der Kunst verhandelt werden. Neben Monografien führen wir auch Künstlerbücher, viele Künstlerinnen und Künstler haben eigene Titel mitgebracht. Wichtiger Bestandteil sind seit der documenta von Catherine David außerdem Bücher zur „Critical Theory“. Unsere Teams in den Läden zwischen London, Berlin und Mailand verfolgen die aktuellen Diskurse der Kunstszene und wissen, was wir einkaufen müssen.

Wie viele Titel führen Sie im „ruruHaus“?

Röse: (lacht) Genug! Wir haben noch nicht nachgezählt. Und das Sortiment verändert sich auch ständig.

Wir schuften alle wie die Irren - in der ersten Woche habe ich vier Kilo abgenommen. Und wir lernen auch voneinander.

Lothar Röse, Hofbuchhandlung Vietor

Warum braucht die documenta fifteen überhaupt zwei Buchhandlungen, die sich Arbeit und Geschäft teilen?

Röse: Entstanden ist die Kooperation, weil das Kuratorenkollektiv ruangrupa und die documenta-Leitung ganz bewusst Firmen, Menschen und Produkte aus der Region einbinden wollten. Schon vor vier Jahren bin ich gefragt worden, ob wir uns an der documenta-Buchhandlung beteiligen möchten. Das hat auch mit der Geschichte unserer Buchhandlung zu tun, die 1955 auf der ersten documenta vertreten war. Nachdem ich mich ein paar Mal mit Franz und Walther König getroffen hatte, haben wir gesagt: Wir machen das zusammen.

König: Offen gestanden hatten beide Seiten auch etwas Bammel davor. Aber der hat sich inzwischen gelegt. Dass wir kooperieren, passt einfach wunderbar zur Idee der documenta fifteen, die ja unter dem Leitgedanken kollektiver Zusammenarbeit steht. Übrigens stand mein Vater Walther König schon 1968 neben der Hofbuchhandlung Vietor mit einem Verkaufsstand auf der documenta, damals noch als Mitarbeiter der Kölner Bücherstube am Dom. Er bot Bücher ohne ISBN und fremdsprachige Literatur an, Vietor alles andere.

Als Kind habe ich die Schule geschwänzt, um über das Ausstellungsgelände der documenta zu streifen. Und mit Joseph Beuys habe ich schon Fußball gespielt.

Lothar Röse

Auch ich bin ein documenta-Kind: Unsere Buchhandlung war 1972 erstmals auf der documenta vertreten, 2022 sind wir zum zehnten Mal dabei.

Franz König

Das klingt so, als würde sich für Sie beide ein Kreis schließen...

Röse: Ich bin in Kassel aufgewachsen und habe die Schule geschwänzt, um über das Ausstellungsgelände der documenta zu streifen. Und mit Joseph Beuys habe ich schon Fußball gespielt.

König: Auch ich bin ein documenta-Kind: Unsere Buchhandlung war 1972 zum ersten Mal auf der documenta vertreten, unter Kurator Harald Szeemann. Dieses Jahr sind wir zum zehnten Mal dabei.

Röse: Das schönste aber ist, neben den vielen Facetten unserer gemeinsamen documenta-Geschichte, dass Konkurrenzdenken oder Neid bei unserer Kooperation überhaupt gar keine Rolle spielen. Wir schuften alle wie die Irren - in der ersten Woche habe ich vier Kilo abgenommen. Und wir lernen auch voneinander.

Was denn zum Beispiel?

Röse: Ich bin beeindruckt von der enormen Professionalität des König-Teams. Aber ich denke, dass man auch von uns was lernen kann – wir sind nämlich Meister im Improvisieren.

König: Die Zusammenarbeit funktioniert wirklich hervorragend. Auch, weil wir uns bei unserem Sortiment überhaupt nicht in die Quere kommen.

In den Containern war es immer heiß und eng, im „ruruHaus“ ist es kühl, modern, richtig luxuriös. Der Laden hat fast schon Modellcharakter!

Franz König

Die temporäre documenta-Buchhandlung war früher in Containern auf der Wiese vor dem Fridericianum untergebracht. Jetzt ist sie im so genannten ruruHaus zu finden – ein ehemaliges Sportkaufhaus, das von den Künstler:innen umgestaltet wurde. Der bessere Standort?

König: Anfangs habe ich gedacht: Einen besseren Platz als auf der Wiese vor dem Fridericianum gibt es gar nicht! Aber inzwischen hat sich die Skepsis gegenüber dem neuen Standort gelegt. In den Containern war es immer heiß und eng, im „ruruHaus“ ist es kühl, modern und richtig luxuriös. Neben den beiden Buchsortimenten gibt es hier auch Merchandising-Artikel zur documenta und den „lumbung kios“ (indonesisch für Kiosk) mit Grafiken und Kunsthandwerk der beteiligten Künstlerinnen und Künstler. Diese vielen Funktionen sind vom ausführenden Designbüro drebes & oertel toll miteinander verbunden worden, es gibt viel Lob vom Publikum. Der Laden hat fast schon Modellcharakter.

Röse: Die Einrichtung ist übrigens wiederverwertbar: Die Regale, die schon älter, aber von sehr guter Qualität sind, kommen von einem Verleger-Freund, die Lampen haben Kasseler Kaufleute zur Verfügung gestellt, die Steine beim Entrée sind vom Baustoffhandel. "Lumbung" eben.

Mich haben die Antisemitismus-Vorwürfe sehr berührt. Die Debatte ist wichtig und muss geführt werden – detailliert, offen, mit allen Betroffenen...

Franz König

...allerdings ist es im Moment sehr schwierig, sich differenziert dazu zu äußern. Es gibt nur noch Meinungen und keinen echten Diskurs mehr.

Lothar Röse

Nach Antisemitismus-Vorwürfen reißt die Kritik an der documenta nicht ab, Bundeskanzler Olaf Scholz hat angekündigt, dass er nicht nach Kassel kommen wird. Haben Sie Sorge, dass auch das Publikum ausbleibt?

Röse: Ich glaube nicht, dass die Besucherzahl hinter den Erwartungen zurückbleiben wird – zumal das Thema in der internationalen Kunstwelt gar nicht die Rolle spielt wie bei uns. Die Haltung der Stadt und der Stadtgesellschaft ist sehr eindeutig: Wir fühlen uns durch die Antisemitismus-Vorwürfe unter Generalverdacht gestellt und arbeiten im Moment gemeinsam daran, das Bild in der Öffentlichkeit wieder zurechtzurücken.

König: Ich war ein paar Tage lang nicht in Kassel und hatte zugegebenermaßen Sorge, dass das Publikum nicht kommt. Doch die Stadt ist voll, die Besucherinnen und Besucher sind guter Dinge. Mich haben die Antisemitismus-Vorwürfe sehr berührt. Die Debatte ist wichtig und muss geführt werden – detailliert, offen, mit allen Betroffenen...

Röse: ... allerdings ist es im Moment sehr schwierig, sich differenziert dazu zu äußern. Es gibt nur noch Meinungen und keinen echten Diskurs mehr. Ein Phänomen, das sich ja seit einigen Jahren immer wieder beobachten lässt.

König: Was wir aber über all dem nicht vergessen sollten: Auf der documenta fifteen gibt es wirklich große, außergewöhnliche Kunst zu entdecken. Wenn sie nun völlig im Schatten dieser Auseinandersetzung verschwinden würde – das wäre sehr traurig.

Beeinflusst die Antisemitismus-Debatte auch Ihr Buchangebot?

König: Das ist ja genau die Qualität einer Buchhandlung, dass sie solche Diskussionen auf den Büchertischen spiegeln kann. Micha Brumliks Einführung „Antisemitismus“ etwa, erschienen bei Reclam, hatten wir schon im Sortiment, bevor der Konflikt um das Banner „People‘s Justice“ von Taring Padi so richtig begann. Jetzt erweitern wir die Titelpalette. Meine Schwester ist Historikerin und forscht zum Holocaust. Sie hat uns mit einer entsprechenden Bücherliste beraten.

Events wie die documenta spielen zwar eine wichtige Rolle, aber wichtiger ist letztlich, dass das Alltagsgeschäft wieder zum Vorkrisenniveau zurückkehrt.

Franz König

Das Kunstbuch hat es in der Corona-Krise durch die Museumsschließungen nicht leicht gehabt. Tut die documenta dem gesamten Segment gut?

König: Viele Verlage sind ja sehr gut durch die Krise gekommen. Gelitten hat der Einzelhandel und er leidet immer noch. Die letzten Corona-Einschränkungen sind vor sechs Wochen gefallen, aktuell sieht so aus, als ob es bald wieder welche geben könnte. Events wie die documenta spielen zwar eine wichtige Rolle, aber wichtiger ist es letztlich, dass das Alltagsgeschäft wieder zum Vorkrisenniveau zurückkehrt. Trotzdem freuen wir uns natürlich über die Aufmerksamkeit, die das Kunstbuch durch die documenta bekommt. Der Katalog jedenfalls, erschienen bei Hatje Cantz, ist schon jetzt ein Riesenerfolg.

Röse: Der erste Nachdruck läuft bereits, wie ich gehört habe. Zum Thema Corona: Die Hofbuchhandlung Vietor ist auch eine Eventbuchhandlung mit 80 Veranstaltungen im Jahr. Das ist durch die Pandemie über Nacht weggebrochen. Zum Glück haben uns unsere Stammkunden die Stange gehalten. Ich freue mich jedenfalls gerade sehr über den Andrang in der documenta-Buchhandlung. Denn Vietor ist ja kein Buchkaufhaus, sondern eine inhabergeführte Traditionsbuchhandlung, in der es ohne documenta eher gemächlich zugeht.

Kooperation lohnt sich: Das ist meine Botschaft aus Kassel an die Kolleg:innen im Buchhandel.

Lothar Röse

Was wünschen Sie sich für die nächsten Wochen?

Röse: Guten Umsatz und spannende Begegnungen mit der Kunst und den Menschen.

König: Viele Gäste kommen lächelnd aus den Ausstellungen. Das ist auch für uns schön und wird hoffentlich bis zum Ende der documenta so bleiben.

Röse: Zu Beginn des Projekts habe ich zu Seniorchef Walther König gesagt: „Das könnte der Beginn einer Freundschaft werden“. Daraufhin hat er mir einen Rippenstoß gegeben und gesagt: „Meinste?“. Damit wir nicht nur arbeiten, sondern auch ein bisschen zusammen feiern, lade ich das Team der Buchhandlung König nach der documenta zu einer kleinen Grillparty ein. Kooperation lohnt sich: Das ist meine Botschaft aus Kassel an die Kolleg:innen im Buchhandel.

Die beiden documenta-Partner

Lothar Röse ist Geschäftsführer der Hofbuchhandlung Vietor in Kassel,
die 1837 gegründet wurde und die er 2014 übernommen hat. Das Traditionsgeschäft, 1955 die erste Buchhandlung, die auf der frisch gegründeten documenta Kataloge und Kunstbände verkaufte, wurde schon mehrfach mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet.

Franz König ist Geschäftsführer der Buchhandlung Walther König,
die sein Vater in Köln gegründet hat und die heute neben dem gleichnamigen Kunstverlag mehr als 40 Filialen und Museumsshops betreibt, zwischen London und Mailand, zwischen Berlin und Paris. Für die Buchhandlung Walther König ist es die zehnte documenta-Präsenz seit 1972.