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Halbe Leben

30. Januar 2025
TONI HECHT

Wie können Frauen den Anforderungen von Beruf und Familie gerecht werden, ohne sich selbst aufzugeben? Und was passiert, wenn wir nur noch ein Gast in unserem eigenen Leben sind, weil wir die Hälfte eines Monats in einer fremden Familie verbringen?

Susanne Gregor erzählt in ihrem neuen Roman "Halbe Leben" eine Geschichte, die den Nerv der Zeit trifft:  Klara, verheiratet mit Jacob und Mutter der zehnjährigen Ada, ist erfolgreich und erfüllt in ihrem Job. Als Mutter fühlt sie sich oft überfordert, glücklicherweise übernimmt ihre Mutter Irene oft die Kinderbetreuung. Doch dann schlägt das Schicksal zu: Irene hat einen Schlaganfall, die Familie gerät in einen Strudel aus Überforderung. Wer kümmert sich um Irene? Und wer um Ada? Und wie soll Klara weiter die Familie ernähren, wenn sie jetzt zu Hause gebraucht wird?

Ein Leben gerät aus dem Takt

Gregor legt mit sanftem Feingefühl und einem Gespür für Zwischentöne ihren Finger in eine Wunde der Zeit und lenkt den Blick auf ein gravierendes Problem unserer alternden Gesellschaft: Die Eltern brauchen Pflege, die kaum jemand selbst in Gänze leisten kann. Das Spannungsfeld zwischen Beruf und Familie verschärft sich – auch für Klara. Das schlechte Gewissen wird zum ständigen Begleiter. Wie viele Menschen heute wendet sich Klara an eine Agentur, und diese schickt die Rettung: Die Slowakin Paulína, freundlich, pragmatisch und zupackend, zieht ins Einfamilienhaus ein. Endlich ist alles gut: Irene ist versorgt. Klara kann sich wieder ihrer Karriere widmen, ihr Mann seine Freiheit genießen. Die Hälfte des Monats verbringt Paulína in dem modernen Einfamilienhaus, die andere Hälfte in der Slowakei mit ihren zwei Söhnen, die in ihrer Abwesenheit von der Schwiegermutter betreut werden.

Alle mögen Paulína, die Extradienste, um die sie immer häufiger gebeten wird, werden großzügig belohnt, auch aussortierte Kleidung darf sie nach Hause mitnehmen. Schließlich ist man doch sogar irgendwie befreundet?

Susanne Gregor

Neue Balance mit Folgen

Welche Auswirkungen hat es, wenn zwei ungleiche Leben aufeinandertreffen, und Privates, Beruf und finanzielle Abhängigkeit verschwimmen? Und was macht es mit den Söhnen in der Ferne, wenn die Mutter die Hälfte des Monats fehlt und immer fremder wird? "Nie ist das schlechte Gewissen größer als bei der Ankunft, wenn man sieht, was man verpasst hat, wenn man Scherze nicht versteht und bei Erzählungen Namen nicht mehr zuordnen kann, wenn man in der eigenen Küche vergessen hat, in welcher Schublade das Besteck liegt."

"Halbe Leben" ist ein Roman, der mit Leichtigkeit und einer klaren, unprätentiösen Sprache von schweren Themen erzählt: von struktureller Ungleichheit, von Wut und Angst, von Verpflichtungen, Liebe und Sehnsucht – der Sehnsucht nach Verbundenheit und nach Freiheit zugleich. Das moderne Familienleben wird zum Drahtseilakt – wer die Balance verliert, kommt schnell unter die Räder.

Susanne Gregor ist mit "Halbe Leben" ein beeindruckender literarischer Wurf gelungen. Für ihre literarischen Arbeiten wurde die in Wien lebende Autorin bereits mehrfach ausgezeichnet – "Halbe Leben" schließt als großartiger Gegenwartsroman nahtlos an diese Erfolge an.

 

Halbe Leben
Susanne Gregor
23,00 € (DE)
ISBN 978-3-552-07523-8
192 Seiten
Zsolnay