Gibert Jeune schließt Filialen

"Gibert Jeune war eine Institution"

6. April 2021
Ralf Klingsieck

Das Quartier Latin wird wieder etwas ärmer. Buchhandlungen der Pariser Gruppe Gibert Jeune schließen. Ralf Klingsieck über die Lage der einst großen Buchhandelsmarke und die Lage des Independent-Buchhandels in Paris.

Bei den letzten vier Buchhandlungen der Marke Gibert Jeune rund um den Pariser Saint-Michel-Platz und am Seine-Quai wurden am Mittwoch, 31. März, die Rollläden endgültig heruntergelassen. Die traditionsreichen Buchhandlungen mit den prägnanten weißen und gelben Markisen und Ladenschildern werden im Bild des Uni-Viertel Quartier Latin fehlen und von vielen Kunden vermisst werden.

Gibert Jeune war eine Institution. Generationen von Studenten und Gymnasiasten haben hier nicht nur ihre Lehrbücher gekauft, sondern sie später auch wieder verkauft, wenn sie sie nicht mehr brauchten. Aber auch ihre Professoren und viele andere starke Leser waren hier Stammkunden. Eine Besonderheit bestand darin, dass alle Bücher eines Fachgebiets nach Autorennamen alphabetisch einsortiert waren – egal ob es sich um neue oder gebrauchte Exemplare handelte. Das hatte den Vorteil, dass man nach einem bestimmten Titel nur an einer Stelle suchen musste und außerdem oft auch Bücher vorfand, die neu längst nicht mehr lieferbar waren. Literatur und Geisteswissenschaften fand man im Hauptgebäude am Saint-Michel-Platz, wo die drei Etagen schon seit den 1970-er Jahren durch Rolltreppen miteinander verbunden waren. Für Naturwissenschaften, für Comics und Jugendbücher, für Reiseliteratur, für Religion und Esoterik gab es kleinere, ebenerdige, zum Platz oder zum Seine-Kai hin offene Läden.

Mit den Buchhandlungen verschwinden auch 71 Arbeitsplätze. „Die meisten Mitarbeiter waren hier 20 Jahre und mehr beschäftigt, ihr Durchschnittsalter liegt bei 50 Jahren“, sagt Betriebsrat Remy Frey von der Gewerkschaft CGT. „Die müssen jetzt auf einem sehr engen Markt und unter den aktuellen, durch Corona noch erschwerte Bedingungen einen neuen Job suchen. Dabei wird so mancher auf der Strecke bleiben.“

Gibert Jeune: Eine Ära geht zu Ende.

Das traditionsreiche Unternehmen geht bis auf das Jahr 1886 zurück. Damals kam der 30-jährige ehemalige Gymnasiallehrer für Literatur Joseph Gibert aus Saint-Etienne nach Paris und brachte in zwei Koffern all seine Bücher mit. Die bildeten den ersten Fonds, als er als „Bouqinist“ mit erst zwei und schließlich vier aufklappbaren grünen Kisten auf der Brüstung des Seine-Kais schräg gegenüber von Notre-Dame einen Gebrauchtbuchhandel begann. Als zwei Jahre später auf der anderen Straßenseite ein Laden frei wurde, griff er zu und eröffnete seine erste feste Buchhandlung. Sie war - spezialisiert auf Religion und Esoterik - bis zuletzt der kleinste Laden des 1888 gegründeten Familienunternehmens. Die anderen folgten mit den Jahren, erst am Kai und dann rund um den benachbarten Saint-Michel-Platz.

Das steile Wachstum in den Anfangsjahren verdankte Joseph Gibert vor allem der 1882 eingeführten allgemeinen und kostenlosen Schulpflicht, die eine riesige Nachfrage nach Schulbüchern mit sich brachte. Vor allem zahlte sich aus, dass Gibert von Anfang an stark auf den Handel mit gebrauchten Büchern gesetzt hat und damit auf einen Kundenstamm aus Studenten und Gymnasiasten. Außerdem sorgte die nahe Sorbonne-Universität für viel akademisches Publikum.

Als Joseph Gibert 1915 starb, führte die Witwe das Unternehmen mit Unterstützung der beiden Söhne, von denen der ältere ebenfalls Joseph hieß und der jüngere Régis, das Familienunternehmen noch einige Jahre gemeinsam fort. Doch als 1929 auch die Mutter starb, trennten sich ihre Wege. Der ältere Sohn gründete weiter oben am Boulevard Saint-Michel, schräg gegenüber der Sorbonne, eine eigene Buchhandlung und nannte sie Gibert Joseph. Dieses heute vierstöckige Buchkaufhaus mit seinen 4.200 m² Verkaufsfläche und einem Bestand von 400.000 Büchern besteht auch weiterhin und ist mit 32,1 Millionen Euro die umsatzstärkste Buchhandlung von Paris.

Régis Gibert blieb mit den vom Vater gegründeten Buchhandlungen am historischen Standort nahe der Seine und fasste sie unter dem Namen Gibert Jeune zusammen. Diese Gruppe mit zuletzt 12,8 Millionen Euro Jahresumsatz musste 2017 Konkurs anmelden und wurde vom verwandte Familienunternehmen Gibert Joseph übernommen. Doch da der Unternehmenszweig Gibert Jeune nicht zur Rentabilität zurückfand, war das Aus vorgezeichnet.

Nur eine der kleineren Buchhandlungen am Seine-Kai wird übrig bleiben, denn sie wurde im vergangenen Dezember durch die Stadtverwaltung übernommen und mit ihr die neun hier beschäftigten Mitarbeiter. Sie soll als Spezialbuchhandlung für Paris-Literatur weitergeführt werden, was sich ja angesichts der zentralen Lage und der sich hier kreuzenden Touristenströme auch anbietet. Das Gebäude des mehrstöckigen Buchkaufhauses am Saint-Michel-Platz wurde schon im vergangenen Juni von einem Immobilienunternehmen gekauft und soll, sobald die Buchregale geleert und entfernt sind, gründlich umgebaut und dann vermietet werden - „zu marktüblichen Preisen“, wie verlautete.

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